Gastbeitrag von Stefan Rüdisser, Ärztekammer.
Gut drei Monate sind seit dem Inkrafttreten des neuen Krankenversicherungsgesetzes (KVG) vergangen. Im Schatten des OKP-Chaos um den Jahreswechsel ist das neue KVG in Kraft getreten, ohne dass gross Notiz davon genommen wurde. Erst nach und nach scheinen die Auswirkungen des neuen KVG ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rücken, obwohl die Stimmbürger bereits im Dezember 2015 an der Urne über das KVG befunden und dieses mit knapper Mehrheit auf den Weg gebracht haben.
Von zentralem Interesse aus Sicht der Versicherten bzw. Patienten ist sicherlich die Anhebung der Kostenbetei-ligung. Zeit also, diesen Aspekt nochmals zu beleuchten, speziell aus Sicht der Senioren.
Neuregelung der Kostenbeteiligung
Nachdem die KVG-Reform im Laufe des Gesetzgebungsprozesses substanziell nach und nach zusammengestutzt worden war, blieb aus Sicht der Versicherten hauptsächlich die vom staatlichen Spardiktat erzwungene Umverteilung der Gelder im Gesundheitswesen. Der Rückzug des Staates aus dem Gesundheitswesen (über 20 Mio. Franken) konnte nur durch zwei Gegenmassnahmen aufseiten der Versicherten austariert werden: Anhebung der Krankenkassenprämie oder Anhebung der Kostenbeteiligung.
Da die Kürzung des staatlichen Beitrags an die OKP die Krankenkassenprämie in die Höhe geschraubt hat, was einen landesweiten Sturm der Entrüstung auslöste, sah sich der Staat veranlasst, die Prämie durch eine Kompensationsmassnahme künstlich nach unten zu drücken. Als einzige Kompensationsmassnahme kam dafür die Anhebung der Kostenbeteiligung, bestehend aus einem fixen Grundbetrag (Franchise) und einem prozentualen Anteil der den Grundbetrag übersteigenden Kosten (Selbstbehalt) infrage. Aufgehübscht wurde diese Massnahme mit der «Stärkung der Eigenverantwortung». Die zu Tode gegeisselte Eigenverantwortung kann der Versicherte nach Ansicht der Politik dadurch übernehmen, dass er nicht wegen jedes Schnupfens zum Arzt und in die Apotheke rennt und auch kein «doctor-hopping» betreibt, also auf eigene Faust Zweit- und Drittmeinungen einholt, wenn die Erstmeinung nicht passend erscheint.
Ja, es gibt sie, die Bagatellkonsultationen, und ja, dadurch entstehen unnötige Kosten im Gesundheitswesen. Leider macht die Politik, bewusst oder latent fahrlässig, aus einer Mücke einen Elefanten. Die Kosten der Bagatellkonsultationen sind im Verhältnis zu den notwendigen Kosten des Gesundheitswesens verschwindend gering und liegen wohl im Promille-Bereich. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch eine massive finanzielle Mehrbelastung aller Patienten, die medizinische Leistungen unzweifelhaft benötigen. Für diese muss der wohlklingende Begriff
«Eigenverantwortung» wie Hohn anmuten.
Aber welche Gruppe ist nun hauptsächlich von der Erhöhung der Kostenbeteiligung betroffen? In erster Linie chronisch Kranke und polymorbide Patienten. Für bestimmte chronische Erkrankungen, welche auf einer verstaubten Liste geführt werden, kann eine Befreiung von der Kostenbeteiligung erwirkt werden. Chronisch Kranke, deren Erkrankung nicht auf der erwähnten Liste aufscheint, sowie polymorbide Patienten werden die Kostenbeteiligung jährlich wohl zur Gänze abliefern. Dass die grosse Mehrheit der polymorbiden Menschen in der Bevölkerungsgruppe der Senioren zu finden ist, ist wohl unbestritten. Somit werden Senioren überproportional oft die Kostenbeteiligung zur Gänze bezahlen müssen, ohne Verschulden oder unterlassene Eigenverantwortung.
Überproportionale Belastung der Senioren
Die maximale Kostenbeteiligung beträgt für Versicherte unterhalb des ordentlichen Rentenalters 1400 Franken (500 Franken Franchise plus 900 Franken Selbstbehalt), für Versicherte oberhalb des ordentlichen Rentenalters 950 Franken (500 Franken Franchise plus 450 Franken Selbstbehalt). Bis 2017 mussten Pensionisten nur die halbe Kostenbeteiligung entrichten, das neue KVG hat die Kostenbeteiligung der Pensionisten nun auf knapp 68 % der ordentlichen Kostenbeteiligung angehoben. Noch klarer zeigt sich dies im Vergleich der bisherigen und neuen Kostenbeteiligung: Die Kostenbeteiligung der Versicherten unterhalb des ordentlichen Rentenalters wurde um 75 % angehoben (von 800 auf 1400 Franken). Die Kostenbeteiligung der Versicherten oberhalb des ordentlichen Rentenalters wurde jedoch um 137,5 % angehoben (von 400 auf 950 Franken). Die prozentuale Mehrbelastung der Senioren ist also fast doppelt so hoch wie bei den übrigen Versicherten. Nachvollziehbare Gründe für die plötzliche Mehrbelastung von Pensionisten bleibt die Politik bis heute schuldig.
Ursprünglich plante die Regierung gar eine gänzliche Streichung der reduzierten Kostenbeteiligung von Pensionisten, was zu einer Anhebung der Kostenbeteiligung von Senioren von sagenhaften 250 % geführt hätte. Nur dank massiver Gegenwehr im Rahmen der Vernehmlassung konnte dieses Szenario noch rechtzeitig verhindert werden.
Die prozentuale Mehrbelastung der Senioren ist also fast doppelt so hoch wie bei den übrigen Versicherten. Nachvollziehbare Gründe für die plötzliche Mehrbelastung von Pensionisten bleibt die Politik bis heute schuldig.
Gefährdung des Generationenvertrags
Nachdem die heutigen Pensionisten jahrzehntelang im Sinne der Generationensolidarität die volle Kostenbeteiligung entrichtet haben, kommen sie nun nicht mehr in den Genuss, im gleichen Ausmasse von der Solidarität der jüngeren Versicherten zu profitieren. Verstärkt wird die Aushöhlung des Generationenvertrags durch die schlichte Tatsache, dass gerade die ältere Bevölkerungsschicht naturgemäss einen höheren Bedarf an medizinischen Leistungen hat als die gesunden Jungen. Die Pensionisten werden neu also verstärkt zur Kasse gebeten, damit die Kostenbeteiligung der jüngeren Generation nicht noch stärker ansteigt. Verkehrte Welt!
«Boomerang-Effekt» durch erhöhte Eigenkosten
Bereits im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses wurde von verschiedenen Institutionen vor einer Erhöhung der Kostenbeteiligung gewarnt, da diese zur Verschleppung von Krankheiten führen kann und sich dadurch nicht nur der Gesundheitszustand der Betroffenen verschlechtert, sondern auch im Sinne des «Boomerang-Effekts» mit erhöhten Behandlungskosten durch verschleppte Krankheiten zu rechnen ist. Die Politik hat dieser Warnung den Stempel «Angstmacherei» aufgedrückt und die Bedenken vom Tisch gewischt. Doch bereits im ersten Quartal nach Inkrafttreten der neuen Regelung treten erste Fälle zutage, bei denen von einer notwendigen und von den Gesundheitsfachleuten dringend empfohlenen Behandlung Abstand genommen wird – aus Angst vor den Kostenfolgen. Die vermeintliche «Angstmacherei» hat sich sogar noch schneller als erwartet zur harten Realität gewandelt.
Aussichten
Es ist nie zu spät, gefällte Entscheide zu korrigieren, es ist vielmehr ein Zeichen von Grösse. Die Politik kann dies jedoch erst auf Basis von harten Daten verantworten, und diese liegen frühestens nach dem ersten Anwen-dungsjahr des neuen KVG vor. Die Anhebung der Kostenbeteiligung ist in erster Linie Symptombekämpfung, die erhoffte Stabilisierung der Gesundheitskosten wird nicht eintreten. Der Schweizer Gesundheitsminister Alain Berset hat öffentlich eingeräumt, dass ein Kostenwachstum im Gesundheitswesen von durchschnittlich 4 % unvermeidbar sei, wenn man die Innovationen des medizinischen Fortschritts nutzen möchte und keine Leistungen streicht. Dennoch besteht noch Potenzial, kostendämpfende Massnahmen zu setzen, welche sich nicht negativ auf die Qualität der medizinischen Versorgung auswirken und den Patienten keine benötigten Leistungen vorenthalten. Aber weder die Anhebung der Kostenbeteiligung noch die kontinuierliche Kürzung der Tarife für Leistungserbringer werden nachhaltige Wirkung entfalten, sondern mittelfristig nur dazu führen, dass sich das medizinische Angebot im Inland langsam zersetzt und die Gelder ins Ausland abfliessen, wo sie keinen volkswirtschaftlichen Nutzen für Liechtenstein erzeugen.
Es ist höchste Zeit, innovative Lösungen im Gesundheitswesen zu finden, welche die Kostensteigerung auf das unvermeidliche Mindestmass (medizinischer Fortschritt, demografische Entwicklung) abbremst, ohne die Patienten sich selbst zu überlassen und die Versorgungslandschaft auszubluten.
Facts Stefan Rüdisser
Stefan Rüdisser hat Rechtswissenschaften an der Universität Innsbruck studiert. Nach mehrjähriger Tätigkeit bei der Regierung, zuletzt im Ressort Gesundheit, ist er seit 2013 bei der Ärztekammer als Geschäftsführer tätig.