von Norbert Batliner
Als meine Grossmutter mit einem Radausflug zur Emanzipation der Frauen beitrug.
Meine Grosseltern wohnten in Ruggell, wo sie eine Landwirtschaft betrieben mit all den Tieren, die damals auf jedem grösseren Betrieb gehalten wurden. Ich wurde oft gerufen, wenn es darum ging auf dem Felde, beim Heuen oder irgendwelchen anderen Arbeiten zu helfen. Es gab immer ausreichend zu tun. Als Schüler fuhr ich unzählige Male mit dem Fahrrad von Nendeln nach Ruggell, denn andere Möglichkeiten gab es kaum. Ein Postauto verkehrte zwar, allerdings nur einmal am Morgen hin und am Abend zurück. Das Fahrrad war somit das einfachste und billigste Transportmittel, um diese Strecke rasch zurückzulegen.
Auch später, gegen Ende der 1950er Jahre, benutzte ich, wann immer ich einbestellt wurde, das Fahrrad. Es war in der Zeit, als Mofas und kleinere Motorräder aufkamen und der eine oder andere meiner Freunde bereits ein solches besass. Das waren die modernen Vehikel, die sich rasch ausbreiteten. Ich selbst benutzte nach wie vor mein Fahrrad, nicht nur aus Begeisterung, sondern ganz einfach aus Mangel an Geld für ein bequemeres Fortbewegungsmittel. Meine Grossmutter lobte mich stets, wenn ich mit eigener Muskelkraft zu ihr gefahren war.
Der neugierige Enkel
Sie war eine Frau, die sich oft Gedanken über die Entwicklungen in der Gesellschaft machte. Dabei konnte sie sehr nachdenklich werden und tiefsinnig argumentieren. Eines Tages sagte sie zur mir: «Stell dir vor, welch interessante Entwicklungsspanne ich seit meiner Schulzeit miterleben durfte. Ich kann mich sehr wohl daran erinnern, als die Leute im Dorf gestaunt haben und anerkennend, ja beinahe respektvoll sagten: ‹Der kommt mit dem Rad!› Und heute? Heute sagen die Leute: ‹Stell dir vor, da kommt einer noch mit dem Rad!›».
«Aber Nana, wann und wie hast du denn das Radfahren erlernt?» Sie schwieg einen Moment, antwortete dann etwas zögernd: «Ja, ich will dir erzählen, wie ich damals das Radfahren erlernte.»
Das Gespräch ging mir nicht aus dem Sinn. Kaum eine Woche später wurde ich wieder zum Helfen gerufen. Wie üblich fuhr ich mit dem Fahrrad in Ruggell vor. Als wir auf dem Feld allein waren, fragte ich meine Grossmutter: «Aber Nana, wann und wie hast du denn das Radfahren erlernt?» Sie schwieg einen Moment, antwortete dann etwas zögernd: «Ja, ich will dir erzählen, wie ich damals das Radfahren erlernte.»
«Es gab damals», so begann sie mit ihrer Geschichte, «sehr wenige Fahrräder in Ruggell; man bewegte sich zu Fuss fort oder allenfalls mit dem Pferdefuhrwerk. Die Fahrräder waren im Vergleich zu heute schwer, ausgerüstet mit einem harten Ledersattel, hatten meist schlechte Bremsen und kein Licht. Wir zu Hause hatten kein Rad, aber die Eltern einer meiner Klassenfreundinnen besassen eines, das immer gut gepflegt war. Auch ich hegte natürlich den Wunsch, das Radfahren zu erlernen. Da gab es allerdings zwei Hindernisse. Zum einen musste ich meine Freundin bzw. ihre Eltern fragen, ob ich auch einmal probieren dürfte zu fahren. Das andere, viel grössere Problem war die Tatsache, dass das Radfahren für Frauen und Mädchen völlig verpönt war. Meine Mutter hatte mir unter Strafe verboten, das Radfahren zu erlernen: ‹Diese Schande wollen wir uns nicht antun.›, ‹Was tät’n d’Lüt säga!› Meine Mutter hatte natürlich bemerkt, dass ich seit einiger Zeit jede freie Minute bei meiner Freundin verbrachte und daher den Verdacht geschöpft, dass ich ihr Verbot übertreten könnte und heimlich versuchte, das Radfahren zu erlernen.
Der heimliche Radausflug
Es ereignete sich mehrere Wochen später, dass meine Schwester Elisabeth ins Spital nach Grabs gebracht werden musste. Der Aufenthalt sollte glücklicherweise nur von kurzer Dauer sein. Da sich die Entlassung jedoch hinauszögerte, meinte Mama, dass jemand aus der Familie Elisabeth unbedingt im Spital besuchen müsse. ‹Wärst du allenfalls bereit?›, sagte sie vorsichtig. ‹Ich weiss, der Weg ist recht weit, aber ich würde dir das zutrauen.› Ich sagte zu, nicht allzu enthusiastisch, ja durchaus zögernd, denn meine Mutter durfte keinesfalls merken, dass ich bei dieser Frage nichts anderes als das Fahrrad im Hause meiner Freundin im Kopf hatte. Was für eine Gelegenheit bot sich mir, endlich eine längere Fahrt unternehmen zu können! Meine Mama wusste natürlich nicht, dass ich das Radfahren schon recht gut beherrschte. Ich sprach mit meiner Freundin über meinen Plan und brachte bald den Mut auf, mein Ansinnen auch ihren Eltern vorzubringen. Zu meiner Überraschung willigten sie sofort ein. Ich war ganz ausser mir. Vielleicht hatte meine Freundin für mich schon vorgespurt, verraten hat sie es mir nie.»
Was für ein Erlebnis! Natürlich durfte ich mich nicht allzu sehr beeilen, sonst hätte Mutter sofort den Verdacht geschöpft, dass ich nicht zu Fuss unterwegs gewesen sein konnte.
«So fuhr ich wenige Tage später ganz gemächlich mit dem Rad nach Grabs. Denk daran», fuhr meine Grossmutter mit ihrer Erzählung fort, «ich war bisher noch kaum bis nach Gamprin gefahren und jetzt bis nach Grabs! Was für ein Erlebnis! Natürlich durfte ich mich nicht allzu sehr beeilen, sonst hätte Mutter sofort den Verdacht geschöpft, dass ich nicht zu Fuss unterwegs gewesen sein konnte.
Meine Schwester war ebenso überrascht wie erfreut über meinen Besuch. Sie lobte mich überschwenglich, dass ich den weiten Fussweg auf mich genommen hatte, um ihr einen Besuch abzustatten. Das hätte sie nun wirklich nicht erwartet. Nachdem wir alle Neuigkeiten ausgetauscht hatten, begab ich mich auf den Heimweg. Der Rückweg war für mich genau so aufregend wie die Hinfahrt.
Fortschritt
Je näher ich Ruggell kam, umso nervöser wurde ich. Ich hatte etwas gemacht, das mir meine Mutter strengstens verboten hatte. Da musste ich nun durch. Als ich im Hause ankam, war meine Mutter gerade in der Küche beschäftigt. Sie war sichtlich überrascht, dass ich schon zurück war und sagte einzig: ‹Aha, du bist schon wieder da.› Für eine ganze Weile sprachen wir kein Wort miteinander. Dann brach sie das Schweigen und sagte, wohl mit einem inneren Augenzwinkern, unerwartet ruhig zu mir: ‹Ja, ja, z’Fuass wärscht du noch net amol denna.› Von diesem Tag an wurde in unserem Hause nie wieder davon gesprochen, dass Radfahren für Mädchen und Frauen verboten wäre.»
Das ist die Geschichte, die mir meine Grossmutter irgendwann um 1957/1958 erzählte. Sie wurde im Jahr 1890 geboren. Das Erzählte trug sich zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu, als meine Grossmutter 18 oder 19 Jahre alt war.
Norbert Batliner
Norbert Batliner, Jahrgang 1944, war von Beruf Kaufmann, zuletzt tätig als Verkaufsleiter in der Massivumformung der Firma Presta/Thyssen Krupp. Er lebt in Nendeln.