Gastbeitrag von Georg Willi, Mauren
Es ist Februar während ich diese Zeilen schreibe. Draussen ist es noch dunkel und kalt; ich hole die Tageszeitung aus dem Briefkasten, gedämpft ist in der Ferne der erste Amselgesang zu hören. Rasch wird es hell, die ersten Sonnenstrahlen tauchen die Landschaft in ein warmes Licht. Weitere Frühlingsboten sind zu hören, so die Kohlmeise mit ihrem «Ziit isch do», das als Anpassung an einen erhöhten Lärmpegel zu einem «Ziit do» wurde, weil diese Kurzform kräftiger und lauter in die Luft geschmettert werden kann. Auch die Blaumeise lässt ihren trillernden Gesang ertönen und aus dem nahen Gehölz ist der durchdringende, helle und laute Ruf «tüh tüh tüh» des Kleibers zu hören.
… ohne Winter?
Nicht nur Vögel reagieren auf den milden Jahresbeginn, sondern auch die Pflanzenknospen können mitten im Winter zu treiben beginnen. So blühen bereits jetzt im Februar die Märzenglöckchen, obwohl ihre Blühzeit in Lehrbüchern mit März–April angegeben wird. Dieser vorgeschobene Winter kann aber auch zum Bumerang werden. Nur allzu gut erinnern wir uns an das letzte Frühjahr, als ebenfalls nach einem zuerst zwar kalten Januar warme Temperaturen zu einer frühen Obstblüte führten, die kurz nach Ostern von einem starken Frost heimgesucht wurde.
In der Vogelwelt gelingt es immer mehr Arten, den Winter auch bei uns zu verbringen, da sich im Talraum kaum mehr eine Schneedecke über längere Zeit halten kann.
In der Vogelwelt gelingt es immer mehr Arten, den Winter auch bei uns zu verbringen, da sich im Talraum kaum mehr eine Schneedecke über längere Zeit halten kann. Damit finden auch solche Arten im Winter genug Nahrung, die früher ausgesprochen als Zugvogel galten. Ein typisches Beispiel ist der Weissstorch. Eine Wintervogelzählung am 6. Januar 2018 ergab, dass 55 Störche im Alpenrheintal anwesend waren. Früher war der Storch ein typischer Zugvogel, wobei die Vögel aus unserer Region zu den «Weststörchen» zählten, die über Frankreich nach Spanien und Westafrika zogen, im Gegensatz zu den «Oststörchen», die über den Bosporus, Nahen Osten und Ostafrika bis nach Südafrika ziehen können. Aber auch der Star, der Hausrotschwanz oder der Stieglitz werden immer öfter auch im Winter bei uns beobachtet.
Bei Zugvögeln, speziell den Kurzstreckenziehern, die im Mittelmeerraum oder an der europäischen Atlantikküste überwintern, stellt man immer frühere Ankunftsdaten im Brutraum fest. Wer früh kommt, kann die besten Reviere und Brutplätze besetzen. Gibt es mit milderen Wintern aber nur Gewinner? Dieser Frage wollen wir im nächsten Abschnitt nachgehen.
Oben: Die Mönchsgrasmücke hat wie viele andere Vogelarten dank milderer Frühlingstemperaturen den Brutbeginn vorverlegt.
… mit Beginn 1. März?
Bei den Tieren sind es nicht nur die Temperaturen und damit verbunden die Vegetationsentwicklung und das verbesserte Nahrungsangebot, die die Abläufe im Leben beeinflussen. Bei vielen Arten ist es die «innere Uhr», die vor allem auch von der Tageslänge gesteuert wird, die das Erwachen von Tieren, die einen Winterschlaf machen, oder den Drang zum Ziehen auslöst. So kann es im Januar noch so warm mit Temperaturen über 5° C und regnerisch sein, an sich Voraussetzungen für die Amphibienwanderung: wir werden trotzdem keinem Grasfrosch und keiner Erdkröte begegnen. Erst wenn nicht nur diese Voraussetzungen erfüllt sind, sondern auch die Tage länger werden, verlassen die Tiere ihren Überwinterungsplatz in einem geschützten Erdloch. Die Amphibienwanderung setzt in der Regel im Talraum Ende Februar oder Anfang März ein, also just mit Beginn des meteorologischen Frühlings, der auf den 1. März datiert ist. Dabei erscheinen die Grasfrösche in der Regel als erste, vor den Erdkröten. Gerade wenn ein abrupter Übergang vom Winter in den Vorfrühling stattfindet, kann es zu einer explosionsartigen Amphibienwanderung kommen, was wiederum an Zugstellen, wo die Tiere Strassen überqueren müssen, oft zu Tiermassakern führt. Es muss deshalb immer wieder an die Vernunft der Automobilisten appelliert werden, bei regnerischem und warmem Wetter nach Einbruch der Dunkelheit Ende Februar oder Anfang März vorsichtig und langam zu fahren, um den Tieren möglichst ausweichen zu können, bestenfalls diese gar über die Strasse zu tragen. Viele Strassenabschnitte, auch in Liechtenstein, werden zudem von Amphibienzäunen gesichert, die Amphibien in Kübeln gefangen und auf die andere Strassenseite getragen. Trotzdem ist der Rückgang der Amphibienpopulation in den letzten Jahren besorgniserregend.
… ohne die Langstreckenzieher?
Aber auch in der Vogelwelt profitieren längst nicht alle Arten von den milderen Wintern. Vor allem die Langstreckenzieher, die also südlich der Sahara überwintern, gehören zu den Verlierern der Klimaerwärmung. Ihr Zugverhalten wird viel stärker von einer inneren Uhr als bei den Kurzstreckenziehern oder den Standvögeln gesteuert. So treffen Mauersegler, Wendehals oder Kuckuck immer um die gleiche Jahreszeit bei uns ein. Gerade beim Kuckuck hat dies verheerende Folgen. Dieser ist bekanntlich ein Brutschmarotzer, das heisst er legt seine Eier in fremde Nester, wo die Jungen von Wirtseltern ausgebrütet und aufgezogen werden. Da ein Teil dieser Wirtsarten wie beispielsweise die Mönchsgrasmücke aufgrund der milderen Winter früher zu brüten beginnt, werden die Jungen bereits gefüttert, wenn der Kuckuck bei uns eintrifft. Er wird damit seine Eier nicht mehr ins Nest dieser Wirtsvögel legen können. Zusätzlich kommt es aufgrund der intensiv betriebenen Bewirtschaftung unserer Landwirtschaftsflächen und der damit verbundenen Abnahme der Insekten zu einer Verknappung der verfügbaren Nahrung.
Gerade die milderen Winter haben zur Folge, dass längst nicht mehr so viele Individuen dem Schnee und der Kälte zum Opfer fallen wie dies früher der Fall war.
Es kommt nicht von ungefähr, dass gerade die Langstreckenzieher besonders gefährdet und bedroht sind. Wenn sie aus ihrem Winterquartier heimkehren, sind oft ihre geeigneten Brutplätze bereits besetzt. Gerade die milderen Winter haben zur Folge, dass längst nicht mehr so viele Individuen dem Schnee und der Kälte zum Opfer fallen wie dies früher der Fall war. Die bei uns verweilenden Vögel werden zudem vermehrt gefüttert. Die Konkurrenz für die Langstreckenzieher seitens der Standvögel nimmt damit zu. Zugegeben, es spielen noch viele andere Faktoren mit, die zum Rückgang der Arten, speziell der Langstreckenzieher, beitragen. So hat eine kürzlich durchgeführte Studie aufgezeigt, dass im Mittelmeerraum jährlich 25 Millionen Zugvögel gefangen und getötet werden. Vor allem Ägypten ist einer der Schwerpunkte des illegalen Vogelfangs. Hier stehen im Herbst vom Gaza-Streifen bis zur lybischen Grenze durchgehend Fangnetze, mit denen allein im Herbst rund 12 Millionen Zugvögel gefangen werden.
Oben: Das Alpenschneehuhn wird als Folge der höheren Temperaturen in den Berglagen in höhere Gebiete verdrängt, was zur Aufgabe von Brutgebieten in den Randregionen führt.
… ohne die Bergvögel?
Die Klimaerwärmung hat auch Folgen auf die Höhenverbreitung der Vögel. Zum einen steigen Arten, die früher nur in den untersten Lagen gebrütet haben, immer höher hinauf, andererseits werden alpine Arten wie das Alpenschneehuhn in immer höhere Lagen verdrängt, sei dies durch zunehmende Konkurrenz seitens der von unten nachrückenden Arten oder aufgrund von Umweltveränderungen durch mildere Temperaturen. Dadurch werden die Populationen in den Randregionen ausgedünnt, bis einzelne Regionen ganz geräumt werden.
Im Herbst 2018 wird ein Brutvogelatlas Liechtensteins erscheinen, dem Aufnahmen zwischen 2013 und 2017 zugrunde liegen. 80 % der Vogelarten, für die ein Vergleich mit früheren Brutbestandsaufnahmen möglich ist, werden heute in weit höheren Lagen angetroffen als dies früher der Fall war. Nur bei 20 % ist die Höhenverbreitung gleich geblieben oder leicht gesunken.
… ohne das Zirpen der Grillen?
Eine Untersuchung im Agrarland von Bayern belegt den Rückgang bei Schmetterlingen in den letzten knapp 50 Jahren um 80 bis 85 Prozent, bei allen Wirbellosen gesamthaft betrachtet um 60 Prozent. Auch andere Studien in Deutschland kommen zu ähnlich erschreckenden Ergebnissen, und auch bei uns dürfte das kaum anders sein. Doch brauchen wir überhaupt Schmetterlinge, Grillen, Heuschrecken und andere Insekten? Ja, nicht nur aus ästhetischen und ethischen Gründen, sondern auch aus ganz handfesten Überlegungen: für die Bestäubung der Blütenpflanzen und auch damit der Kreislauf der Natur nicht ganz aus dem Gleichgewicht gerät und zu immer einseitigerer Verwendung von Pestiziden, Herbiziden und Funghiziden führt.
… ohne das Zwitschern der Vögel?
1962 erschien das Buch «Silent Spring» (Der stumme Frühling) der Biologin Rachel Carson, das erstmals eine breite Diskussion um den Pestizideinsatz und dessen Folgen auf die Tierwelt entfachte. Thematisiert wurde speziell der Einsatz von DDT, mit dem grossflächig Insekten bekämpft wurden. DDT zeigte hormonähnliche Wirkungen. Greifvögel legten Eier mit dünneren Schalen, was zu erheblichen Bestandseinbrüchen führte. DDT geriet auch unter Verdacht, beim Menschen Krebs auszulösen. Aus diesen Gründen wurde die Verwendung von DDT in den meisten westlichen Ländern in den 1970-er Jahren verboten. Heute, über 50 Jahre später, sehen wir uns unter anderem mit denselben Problemen konfrontiert wie Pestizideinsatz oder ganz allgemein der Intensivierung in der Landwirtschaft. Als Folge des dramatischen Rückgangs bei Insekten verschwinden auch Vogelarten. Die Feldlerche ist bei uns verstummt, schon früher der Grosse Brachvogel, sowie die Bekassine. Viele Arten in der Kulturlandschaft sind vom Aussterben bedroht, wie der Wendehals oder der Neuntöter.
… nur noch mit neu eingewanderten Arten?
Nicht ganz so schlimm sieht es mit den Vogelarten des Waldes oder auch der Siedlung aus. So kann prognostiziert werden, dass es in absehbarer Zeit keinen stummen Frühling geben wird. Dies auch deshalb, weil dank der Klimaerwärmung neue Arten einwandern wie der Orpheusspötter oder früher schon das Schwarzkehlchen. Der bereits erwähnte Brutvogelatlas Liechtensteins wird deshalb mehr Arten als früher erschienene Brutvogel-Auflistungen ausweisen. Er wird aber auch zeigen, dass es mehr Arten sind, die Bestandseinbussen gegenüber früher erlitten haben als solche, die positive Bestandsentwicklungen aufweisen. Es ist festzustellen, dass die häufigen Arten wie die Krähenvögel zahlenmässig zugenommen haben, die seltenen Arten jedoch sind noch seltener geworden. Setzen wir uns deshalb ein, dass unsere wertvolle Vielfalt erhalten bleibt, damit wir und unsere zukünftigen Generationen noch ein vielfarbiges und vielfältiges Frühlingserwachen erleben dürfen!
Georg Willi
Geboren 1947 in Rheineck (SG), Studium der Forstwissenschaften an der ETH Zürich. Über
35 Jahre in privatem Ingenieurbüro für Natur- und Landschaftsschutz und über 60 Jahre
ornithologisch tätig. Verfasser zahlreicher Publikationen über die regionale Vogelwelt.