Gastbeitrag von Dr. Jochen Folz, Dompfarrer, Vaduz
Liebe Leserinnen und liebe Leser!
Weihnachten ist mit Abstand das bekannteste und vielleicht auch das beliebteste Fest während des Jahres. Es scheint zumeist so, als ob es kaum jemand erwarten könne, werden sogar noch vor Beginn der inzwischen vorweihnachtliche Zeit genannten Wochen, die eigentlich die Adventszeit ist, entsprechende Feiern abgehalten. Diese gut gemeinte Entwicklung lässt den modernen Menschen auf eine gewisse Weise wieder ein kleines Kind werden, das etwas nicht nur unbedingt, sondern auch sofort haben will. Die tiefe Sehnsucht nach gerade den wunderschönen Kindheitserlebnissen mit dieser geheimnisvollen Stimmung von Licht im Dunkeln, Wärme in der Kälte, Überfluss auf Verzicht und Ruhe statt Lärm will oder soll sich wieder erfüllen und dafür ist die Gesellschaft bereit, alles Mögliche aufzugeben und Unmögliches aufzubieten. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich immer wieder auch die Frage nach diesem Anlass, der offensichtlich die allermeisten Leute so froh stimmt.
Die Geschichte von Weihnachten
Wieso also feiern wir Weihnachten? Eine Umfrage durch 1 FL TV im Format «vox populi» würde sicher durch profundes Primarschulwissen ganz korrekte Antworten geben können: es ist die Erinnerung an die Geburt Jesu im Stall zu Bethlehem; viele Krippendarstellungen, auch in der Öffentlichkeit, machen uns darauf aufmerksam und laden uns dazu ein, über dieses Ereignis nachzudenken.
Eine schlaue Primarschülerin fragte mich einmal, als wir über Weihnachten sprachen, woher ich denn alle diese Geschichten kenne. «Du hast eine wirklich wichtige Frage gestellt», antwortete ich ihr und begann zu erzählen, wie es möglich ist, dass wir nach zwei Jahrtausenden noch immer über diese Geburt reden. Am Anfang waren es die Hirten, die sozusagen als Augenzeugen dabei gewesen sind und, wie uns der heilige Evangelist Lukas berichtet: «als sie es sahen, erzählten sie von dem Wort, das ihnen über dieses Kind gesagt worden war.» Und es heisst im Evangelium weiter: «Alle, die es hörten, staunten über das, was ihnen von den Hirten erzählt wurde.» Die Schulkinder habe ich dann eingeladen, einmal darüber nachzudenken, was sie selbst schon unbedingt weitererzählen wollten. Viele Beispiele wurden genannt: mehr oder weniger Wichtiges, mehr oder weniger Sicheres, mehr oder weniger Nützliches. So erzählte ich ihnen die Geschichte der drei Siebe des Sokrates, die mir aus dem Griechischunterricht am Gymnasium noch immer in bester Erinnerung ist:
Die drei Siebe des Sokrates
Zum weisen Sokrates kam einer und sagte: Höre, Sokrates, das muss ich dir erzählen! Halte ein!, unterbracht ihn der Weise, hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt? Drei Siebe?, fragte der andere voller Verwunderung. Ja, guter Freund! Lass sehen, ob das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht: das erste ist die Wahrheit. – Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist? Nein, ich hörte es jemanden erzählen und… So, so! Aber sicher hast du es im zweiten Sieb geprüft. – Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst, gut? Zögernd sagte der andere: nein, im Gegenteil … Hm, unterbrach ihn der Weise, so lasst uns auch das dritte Sieb noch anwenden: Ist es notwendig, dass du mir das erzählst? Notwendig nun gerade nicht … Also, sagte lächelnd der Weise, wenn es weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es sein und belaste dich und mich nicht damit.
Die Nachricht der Engel an die Hirten
Gerade die Weihnachtsgeschichte lädt uns Menschen hier und heute dazu ein, wieder darüber nachzudenken, was uns wirklich wichtig ist und was wir einander in welcher Weise sagen. Die Hirten haben sich zunächst eigentlich über etwas ganz Gewöhnliches gefreut: der Beginn von neuem Leben auf dieser Welt. Gleichzeitig haben sie dabei durch die Engel das völlig Aussergewöhnliche erlebt: die Botschaft von Gottes grosser Gabe für diese Welt.
Die Erfüllung uralter Verheissungen, das Kommen des längst Erwarteten. Wenn wir im Alltag von Dingen erfahren, die auf unterschiedliche Weise unglaublich sind, dürfen auch wir es wie die Hirten machen: genau hinschauen und wirklich nachdenken bzw. dem Rat des weisen Philosophen folgen oder auch wie die schlaue Primarschülerin einfach fragen. Die Hirten haben durch die Engel des Himmels von der Geburt des Erlösers auf Erden gehört. Sie haben sich nicht blenden lassen von äusseren Zeichen, sondern folgten ihrem inneren Bedürfnis nach Wahrheit.
Die Hirten waren froh darüber, dass «alles, was sie gehört und gesehen hatten, so wie es ihnen gesagt worden war» tatsächlich so war. Letztlich haben auch wir so von Weihnachten erfahren: die Engel verkündeten es den Hirten, die Hirten erzählten es weiter und die Evangelisten haben es aufgeschrieben. Seither wird dieses Ereignis in der Erinnerung lebendig gehalten über Jahrhunderte und Jahrtausende inzwischen auf der ganzen Welt. Vielleicht erinnert sich die eine oder der andere noch an das erste bewusst erlebte Weihnachten mit der Geschichte der Geburt Jesu im Stall zu Bethlehem und erzählt heute selbst wie die Hirten von dem damaligen Geschehen oder vom selbst Erlebten im Sinne des Guten, Wahren und Nützlichen.
Für das Weihnachtsfest und für die Zukunft wünsche ich uns allen ein waches Interesse an der Realität, damit sich die Botschaft der Engel «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens» auch heutzutage mitten unter uns verwirklichen kann.