von Franz-Xaver Goop
Die vier Koffer stehen etwas verloren und doch sorgsam aneinander gereiht im kühlen Dämmerlicht vor dem Eingang zum Exerzitienhaus St. Altmann. Die Gäste aus Wien, so hiess es im Frühstücksraum, seien noch bei der Laudes, dem morgendlichen Stundengebet der Mönche, bevor sie sich direkt auf den Weg nach Hause machten, wo die Osterhasen schon auf sie warteten.
Ostern im Benediktinerstift Göttweig: Jedes Jahr treffen sich hier auf dem idyllisch gelegenen Klosterhügel, hoch über der Wachau, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Altersgruppen, um gemeinsam mit den Mönchen des Stifts die Spiritualität der Kar- und Osterliturgie zu erleben. Göttweig ist nur eines von vielen Klöstern, das über das ganze Jahr Rückzugswochen mit verschiedenen Schwerpunkten für unterschiedliche Zielgruppen anbietet. Woher diese Faszination für Klöster in einer Zeit, in der sich die Reihen der Gottesdienstbesucher in unseren Kirchen merklich, mancherorts sogar bedenklich lichten?
Das Bedürfnis nach Spiritualität
Wenn sich immer mehr Menschen von den traditionellen Kirchen entfernen, bedeutet das nicht, dass das Bedürfnis nach Spiritualität ebenso schwindet. Umfragen zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. Was allerdings mit «Spiritualität» gemeint ist, bleibt meist unklar. Das Wort hat Karriere gemacht und ist zu einem eigentlichen Trendsetter geworden, dessen Inhalt an eine postmoderne Wundertüte erinnert, in der von Tai Chi und Yoga bis zu den sphärischen Klängen eingängiger Wohlfühlmusik so ziemlich alles Platz hat. Das lateinische «spiritus» und das daraus abgeleitete «spiritualitas» bedeutet Geist bzw. Geistigkeit und meint das Streben nach dem Erleben einer geistigen Wirklichkeit, die jenseits unserer sinnlich wahrnehmbaren und wissenschaftlich beschreibbaren Welt liegt.
Religion und Spiritualität
Moderne Menschen haben weniger das Bedürfnis, sich religiös unterweisen oder gar moralisch belehren zu lassen, als vielmehr den Wunsch, auf einen Weg geführt zu werden, der sie zu ihrem wahren Selbst als Teil eines alles umfassenden Ganzen führt. Viele versprechen sich davon Heilung und Selbstklärung. Dass sich dieses Bedürfnis leicht und gewinnbringend vermarkten lässt, überrascht kaum. Was früher der Pfarrer, später der Psychoanalytiker war, ist heute der persönliche Achtsamkeitstrainer.
Wie jede andere Religion lebt nämlich auch das Christentum in seinem innersten Kern von Ritualen und geistigen Übungen, die den Menschen an seinen eigentlichen Seinsgrund heranführen sollen.
Aus diesem Grund liegen auch fernöstliche Religionen wie der Buddhismus oder der Hinduismus, aber auch der spirituelle Islam (Sufismus) im Trend. Häufig geht dabei vergessen, dass Spiritualität ebenso im Christentum eine jahrtausend-alte Tradition hat, die in der mittelalterlichen Mystik mit Meister Eckhart ihren Höhepunkt fand. Wie jede andere Religion lebt nämlich auch das Christentum in seinem innersten Kern von Ritualen und geistigen Übungen, die den Menschen an seinen eigentlichen Seinsgrund heranführen sollen. Verschiedene Formen der Meditation und Kontemplation, Fasten, Pilgern, Askese oder das mantraartige Wiederholen von Gebetstexten oder Psalmen sind Teil dieser christlichen Spiritualität, wie sie besonders in Klöstern bis heute gelebt wird.
Faszination Kloster
Schon die alten Hochkulturen kannten heilige Zeiten und heilige Orte, die den Menschen eine rituelle Abkehr vom Alltag ermöglichten, um sich zu finden und zu erneuern. Unsere auf Geschwindigkeit, materielles Wachstum und Effizienz ausgerichtete Welt kennt weder Mysterien noch solche Rückzugsräume. Der digitale Zugriff ist omnipräsent. «Mit der sichtbaren Welt sind wir gut vertraut. Aber die unsichtbare Welt kennen die meisten Menschen nicht, obwohl sie alles durchdringt und wirklicher ist als die sichtbare Welt. Das menschliche Leben gelingt, wenn wir beide Welten miteinander verbinden können.» heisst es im neuesten Kursbuch der Propstei St. Gerold im Grossen Walsertal. Pater Kolumban ist gerade dabei, die Propstei, die seit dem 13. Jahrhundert zum Benediktinerkloster Einsiedeln gehört, umfassend zu sanieren.
Ora et Labora et Lege
Bereits 800 Jahre vorher, im 3. Jahrhundert, zieht es junge Christen in die Einöde der Wüsten Vorderasiens, wo sie als Eremiten oder Einsiedler in losen Kolonien ihr ewiges Seelenheil suchen, bis sie sich als Mönchsgemeinschaften gegen Ende des 4. Jahrhunderts über ganz Europa ausbreiten. Es ist das grosse Verdienst des heiligen Benedikt, spirituelle Selbst- und Gotteserfahrung (ora), Gemeinwohl (labora) und rationalen Diskurs (lege) in seiner berühmten Ordensregel (6. Jhdt.) widerspruchsfrei zusammenzuführen. Anders als im modernen Individualismus sind hier Selbstfindung und Allgemeinwohl eng miteinander verknüpft. Die Abkehr von der Welt und die Rückkehr zu sich selbst münden nicht einer in abgehobenen egozentrischen Selbstverwirklichung, sondern sind jeweils auf das Wohl der Gemeinschaft ausgerichtet. Der Mönch ist deshalb fest im Hier und Jetzt verwurzelt und keinesfalls der Welt entrückt. Ebenso steht die spirituelle Innenerfahrung nicht im Widerspruch zu einer Aussenerfahrung, die sich empirisch oder normativ beschreiben lässt, weil Innen und Aussen zwei völlig verschiedene Erfahrungswirklichkeiten betreffen.
Der Verzicht auf Ehe und Besitz sowie ein in Gehorsam auf Gott bezogenes Leben haben in unserer Welt keinen Platz.
Der enge Weg
Was kann dem modernen Menschen ferner liegen, als das Recht auf Freiheit und Selbstverwirklichung freiwillig aufzugeben? Der Verzicht auf Ehe und Besitz sowie ein in Gehorsam auf Gott bezogenes Leben haben in unserer Welt keinen Platz. Und doch ist es derselbe moderne Mensch, der bei allem Wohlstand sich zunehmend verarmt erlebt und eine grosse Sehnsucht nach Authentizität, Entschleunigung und Achtsamkeit verspürt, derweil überflüssiger Konsum ihn zunehmend von sich selbst und seiner Mitwelt entfremdet. Die «Grosse Freiheit», die die Reederei Hapaag Lloyd dieser Tage auf der MS Europa mit 1000 m2Ocean Spa und Fitness sowie 7 Gourmetrestaurants verspricht, zielt ins Leere. Denn jeder Versuch, sich selbst durch einen immer noch grösseren Besitz und noch mehr äussere Lebensvielfalt zu «verunendlichen» muss scheitern, weil dies allein weder Sein noch Sinn schafft. Daher das überraschende Bedürfnis vieler moderner Menschen, sich zumindest zeitweise freiwillig einzuschränken, um so zu einer authentischen Selbstfindung und einem erfüllten Leben zu finden. «Deshalb schlagen sie [die Mönche] entschlossen, den engen Weg ein, von dem der Herr sagt, ‹Eng ist der Weg, der zum Leben führt›.» (Benedikt, V,16) Die Mönche entscheiden sich nach Benedikt «entschlossen», das heisst wohlüberlegt und ohne Zwang, für Verzicht, Gehorsam, Ordnung und Besitzlosigkeit, weil sie dadurch entlastet und innerlich befreit werden. Wer so hinter Klostermauern leben kann, fühlt sich weder vom Leben ausgeschlossen noch eingesperrt. Im Gegenteil, er ist froh und frei und mitten im Leben: es sind keine Gefängnismauern, es sind Mauern, die befreien.
Es ist Abend geworden in Göttweig. Wieder beten die Mönche in der Krypta der Stiftskirche ihr Stundengebet. Und wieder fällt kühles Dämmerlicht auf den unterdessen leeren Hof beim Eingang zum Exerzitienhaus St. Altmann. In Wien haben sich die Osterhasen schon früh zur Ruhe begeben. In den Gästezimmern des Exerzitienhauses hingegen brennt noch Licht. Fleissige Hände reinigen die Zimmer. Die nächsten Klosterbesucher sind schon angesagt.
Franz-Xaver Goop
Franz-Xaver Goop, lic. phil. I, Jahrgang 1952, studierte an den Universitäten Freiburg und Zürich Anglistik und Germanistik und unterrichtete am Liechtensteinischen Gymnasium sowie an der Interstaatlichen Maturitätsschule ISME Sargans. Unter anderem war er mehrere Jahre für den LED in Südamerika tätig und während zwölf Jahren Mitglied der Kommission zum Schutz der Europäischen Regional- und Minderheitensprachen des Europarats in Strassburg. Die Ostertage verbringt er regelmässig mit Freunden im Benediktinerstift Göttweig in Niederösterreich. Franz-Xaver Goop lebt in Mauren.