Gastbeitrag von Mag.phil. Matthias Brüstle, Geschäftsführer Demenz Liechtenstein
Der Schweizer Bundesrat hat unlängst vorgeschlagen, Weihnachten dieses Jahr im Wald zu verbringen. Hielten sich die meisten daran, wären die Wälder wahrscheinlich sehr voll.
Aber wir sind mit der aktuellen Situation ja ohnedies schon ziemlich im Wald, wie wir uns denn nun konform verhalten sollen …
Hinsichtlich eines pandemiekonformen Verhaltenskodex für Weihnachten und Neujahr ist es mehr als einen Monat vor dem eigentlichen Anlass schwierig, Prognosen aufzustellen. Schlussendlich wird die Regierung Liechtensteins die entsprechenden Vorgaben ausgeben; und die sind ja unmissverständlich. Und auf alle Fälle zu befolgen. Das heisst dann sicher, dass Weihnachten 2020 und der Jahreswechsel ein auf den jeweiligen Haushalt reduziertes Programm sein sollen.
Wie soll und kann ich mich nun verhalten, um in dieser neuen Situation zurecht zu kommen?
Vielleicht kann ein Rückblick in die eigene Kindheit dazu einen Beitrag leisten. In den meisten Familien wird damals das Fest der Geburt Christi weniger vom Konsum als eher von heimeligen Erfahrungen geprägt gewesen sein. Sie wissen schon: Krippenschauen in der Kirche, Lametta, Kerzenduft, Bratäpfel, selbstgemachte Krömle, wenige, aber nützliche Geschenke. Vielleicht zwei Bescherungen: einmal zuhause, einmal bei den Grosseltern. Der Erwartungsdruck, ob es denn wohl das eine oder andere Spielzeug vom Christkind gebe, war sicher da; aber in einem überschaubaren Ausmass.
Und: Ich zumindest habe die Heilige Nacht auch als Stille Nacht in Erinnerung; obwohl damals alle Brüder zuhause waren und drei Generation gemeinsam das Fest begingen.
Die behördliche Empfehlung lautet dieses Jahr auf jeden Fall, nicht im grossen Stil gemeinsam zu feiern. Das wird vor allem bei einigen Grosseltern dazu führen, dass sie heuer alleine der Geburt des Herrn huldigen.
Weihnachten als Kind
Was kann nun konkret als Idee herhalten, mit diesen ungewohnten Vorgaben umzugehen?
Nun, vielleicht eben die Erinnerung an die Zeit der eigenen Kindheit, die aus heutiger Sicht vergleichsweise grosse Entschleunigung des damaligen Zugangs bewusst wahrzunehmen, sich wieder hinein zu fühlen in die teils mehrere Jahrzehnte vergangene Weihnachtszeit. Vielleicht helfen Tagebücher oder Fotos aus der damaligen Epoche, um sich an bisher vergessen geglaubte Details zu erinnern. Und da können auch konkrete Fragen die Erinnerung beflügeln. Woher kam damals der Christbaum? Wer hat ihn geschmückt? Wie verbrachte ich die «unerträgliche» Zeit bis zum Erklingen des Glöckleins? Was gab es traditionellerweise zu essen? Erinnere ich mich an besondere Rollen und Bräuche? Wer hat denn die Weihnachtsgeschichte vorgetragen? Haben wir gesungen, hat jemand musiziert? Was waren weitere Höhepunkte an diesen Freudentagen? Gab es Neujahrsbräuche? Wie hoch lag damals der Schnee? Hatten wir damals Gäste? Eine ledige Tante? Die Grossmutter? Was hat der Grossvater damals über seine Kindheit erzählt? War ich ein «braves» Kind? Was würden meine Geschwister über die Weihnachtsfeste von damals erzählen? Wie war das seinerzeit in der Schule? Steht das Gebäude noch? Gibt es aus der Zeit Bilder? Wen habe ich aus dem Kreis der damaligen Mitschüler aus den Augen verloren? Warum? Welche Perspektiven hatte ich damals – familiär und beruflich? Welcher Vorgabe musste ich folgen? Hatten die Eltern konkrete Pläne für mich? Was war mein geografischer Radius in der damaligen Zeit?
Biografiearbeit
Aus der Arbeit mit Menschen mit Demenz wissen wir, dass der Erhalt des Selbst durch das Erinnern an das gelebte Leben von immenser Bedeutung ist. Das Erinnern an die eigene Wirksamkeit, an Gelingendes im Leben, an wichtige Beziehungen, an Erwartungen anderer, an Vorhaben und an Erreichtes. Klarerweise macht aber auch das Erinnern an gescheiterte Pläne, an Unglück, an Leid und Verlust einen Menschen zu einem Ganzen. Umso mehr noch dann, wenn Erinnern zunehmend abhanden kommt. Erinnern schafft Identität, schafft Ordnung, macht den Menschen (wieder) zum Eigner seiner Lebensgeschichte. Und wir wissen, dass Erinnern auch bei Menschen, deren Gedächtnis noch gut funktioniert, zu wichtigen, entlastenden Gefühlen führen kann.
Wir möchten dafür offene Menschen gewinnen, diese «neuen» oder wiedergewonnenen Erinnerungen und Erkenntnisse zu teilen.
Demenz Liechtenstein lanciert aktuell ein Projekt, das sich schlicht «Biografiearbeit» nennt und dessen Ausgang ergebnisoffen angelegt ist. Die Idee dahinter ist, Menschen heranzuführen an bisher schlummernde Erinnerungserfahrungen, sie auf Papier oder Film festzuhalten und sie damit zu konservieren. Wir möchten dafür offene Menschen gewinnen, diese «neuen» oder wiedergewonnenen Erinnerungen und Erkenntnisse zu teilen. Zunächst nur mit sich selbst und je nach Umfang oder Qualität auch mit anderen. Wissenschaftliche Grundlage dafür sind unter anderem. Zugänge aus der sogenannten Dignity Therapy [Würde-Therapie] von Harvey M. Chochinov.
Sehr konkret
Jetzt könnte man sich die Frage stellen, was denn dieser Zugang überhaupt bringen soll? Der nach Chochinov verwendete Fragenkatalog beinhaltet einerseits eine einfühlsame Erhebung der Ereignisse im Leben eines Menschen, an die er sich besonders gern oder auch ungern erinnert, an die «beste» Zeit, an Rollen und besondere Engagements; Dinge, auf die wir besonders stolz sind und die uns besonders glücklich gemacht haben. Andererseits beinhaltet dieser Zugang Fragen nach Erkenntnissen aus dem eigenen Leben, die wir an andere Menschen – wie Kinder oder Enkelkinder – weitergeben möchten. Gibt es einen Rat oder eine besondere Lebensweisheit? Gibt es Dinge, die Sie Ihrer Familie über sich mitteilen möchten? Erinnerungen, die Ihnen besonders wichtig sind? Gibt es Dinge oder Umstände, die noch ausgesprochen werden sollten? Hüten Sie ein Geheimnis, das (jetzt oder später) gelüftet werden sollte? Was sind Ihre Hoffnungen und Wünsche für Ihre Angehörigen? Gibt es Empfehlungen, die Sie Angehörigen mitgeben möchten, um ihnen damit zu helfen, die Zukunft gut bewältigen?
Sie sehen, bei diesem Zugang geht es um sehr konkrete und handfeste Fragen und Antworten.
Wem nützt Biografiearbeit?
Jedem Menschen selbst! Erfahrungen zeigen, dass es Sinn macht, sich mit seiner biografischen Herkunft zu beschäftigen, darüber zu reflektieren, möglicherweise Verdrängtem bewusst zu begegnen und offene Dinge auch abzuschliessen. Übrigens: Manche Menschen meinen, dass ihr Leben eigentlich nichts Besonderes beinhalte und sie in Vielem gescheitert seien. Doch das stimmt nicht: Jedes Leben ist besonders und in jedem Leben begegnet man grossen Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Und die Tatsache, dass man jetzt noch hier ist und lebt, zeigt, dass doch Vieles bewältigt wurde und das zeichnet ihn oder sie aus.
Die Biografiearbeit kann auch anderen in der Familie dienen, z.B. der nachfolgenden Generation, und deren Nachfolgern. Weil sie dadurch neue Einblicke und Verständnis dafür erhalten, warum sich Dinge so und nicht anders ergeben haben und so quasi auch ein Vermächtnis der eigenen Familiengeschichte erhalten – und im besten Fall auch einen Segen für die Zukunft. Und nebenbei kann das Wissen über eine Biografie den «Jungen» in der Familie dabei helfen, bei Auftreten einer allfälligen dementiellen Erkrankung des Erzählenden profunde Werkzeuge zum Erhalt von dessen oder deren Identität zur Verfügung zu haben.
Die Biografiearbeit dient vielleicht einer «neuen» gesellschaftlichen Entwicklung, einer neuen Tradition, also uns allen: Innehalten und die eigene Geschichte(n) beleuchten, (vorläufiges) Formulieren dessen, was uns ausmacht, was uns wichtig ist.
Am Ende des Jahres schloss sich der Kreis; man zog Bilanz, dankte und gab weiter, was es weiterzugeben gab.
Und jetzt sind wir wieder am Anfang dieser Gedanken: In vielen früheren Weihnachtsstuben ist wahrscheinlich genau das passiert. Am Ende des Jahres schloss sich der Kreis; man zog Bilanz, dankte und gab weiter, was es weiterzugeben gab. In der frohen Hoffnung, dass sich nach Silvester Schlechtes nicht neuerlich ereigne und Gutes sich wiederhole. Die Alten erzählten, die Jungen hörten zu.
Günstige Gelegenheit
Wann – wenn nicht jetzt – eröffnet sich ein Zeitfenster, um sich von der verordneten Entschleunigung nicht knechten zu lassen, sondern sie sogar als willkommene Gelegenheit zu betrachten, um sich mit dem in der Regel grösseren, bereits vergangenen Teil unseres eigenen Lebens zu beschäftigen? Vielleicht möchten Sie bei einem der eingangs erwähnten Waldspaziergänge über Weihnachten einmal darüber nachdenken, ob Sie sich für dieses Engagement erwärmen könnten?
Sollten Sie Interesse an konkreter Biografie-Arbeit mit unserer Beteiligung oder unter Anleitung verspüren, dann kommen Sie gerne auf mich zu; dann unterhalten wir uns –persönlich und coronakonform – unter vier Augen weiter. Ich bin gespannt …
Kurzbiographie
Matthias Brüstle, Jahrgang 1967; Nachzügler in einer Reihe von vier Söhnen. Klinischer und Gesundheitspsychologe. Arbeitspsychologe, CAS in Dementia Care. Matura 1986 am PG Mehrerau. Studium der Psychologe in Innsbruck. Diverse Postgraduate-Ausbildungen in Wien, Frankfurt, St. Gallen. 1994 bis 2008 tätig beim Verein für Betreutes Wohnen. Seit 2008 selbstständig in eigener Praxis (www.psycon.li). Seit 2012 Koordinator der Freiwilligen Sozialen Jahrs Liechtenstein (www.fsj.li). Seit 2011 mit Altersthemen befasst, ab 2015 für Demenz Liechtenstein (www.demenz.li)