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60Plus | Jahreszeiten | April, 2021
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Klein und widerstandsfähig: das Wintergoldhähnchen

Von Georg Willi, Mauren

 

Das Wintergoldhähnchen, mit wissenschaftlichem Namen Regulus regulus, was kleiner König bedeutet, weil «gekrönt» mit einem gelben Scheitelstreif, ist unser kleinster Vogel. Er wiegt gerade einmal 4 bis 8 Gramm und hat eine Grösse von 9 bis 10 cm. Die Zwillingsart, das Sommergoldhähnchen, ist mit 5 bis 7 Gramm nur unbedeutend schwerer. Der Zaunkönig, der oft fälschlicherweise als unser kleinster Vogel bezeichnet wird, wiegt immerhin fast doppelt so viel, zwischen 7,5 und 11 Gramm. Trotzdem sind Goldhähnchen mit ihrem Gewicht noch mehr als doppelt so schwer wie der kleinste Vogel der Welt, die Bienenelfe, ein Kolibri, der auf Kuba lebt und lediglich 1,6 bis 2 Gramm schwer ist.

Bewohner des Nadelwaldes

Das Wintergoldhähnchen ist weit verbreitet, von Westeuropa bis Japan und Zentralchina. In Europa gibt es lediglich Verbreitungslücken in den baumlosen Gebieten des hohen Nordens und den trockenen, fast baumlosen, steppenartigen Gebieten im Mittelmeerraum (KELLER ET AL. 2020).

Die höchsten Populationsdichten werden in den Nadelwäldern Skandinaviens und den Berggebieten Zentraleuropas, insbesondere in den Alpen und den Karpathen gefunden. Liechtenstein liegt im Zentrum der Alpen und damit in einem Verbreitungsschwerpunkt der Art. Tatsächlich besiedelt das Wintergoldhähnchen in erster Linie die höher gelegenen subalpinen Fichtenwälder, wo auch die grössten Dichten erreicht werden, wie der 2019 erschienene Brutvogelatlas Liechtensteins aufzeigt (WILLI 2019). 

Das Wintergoldhähnchen siedelt bei uns in Nadel- und Mischwäldern, sofern letztere kurznadlige Nadelbäume aufweisen. Reine Laubwälder, aber auch Bergföhrenwälder werden gemieden.

Zwischen fit und fett

Nimm fünf Gramm Wasser, gib es in einen Fingerhut und stell es in das Gefrierfach des Kühlschranks; in weniger als einer halben Stunde wird es zu Eis erstarrt sein. Ein Wintergoldhähnchen, fünf Gramm schwer, harrt im Bergwald in einer Januarnacht bei -20°C über 16 Stunden aus – und überlebt! Der kleinste Vogel Europas hält seine Körpertemperatur selbst in dieser Situation bei +41°C. Würde sein warmer Körper gleich rasch auskühlen wie das Wasser im Gefrierfach, wäre der befiederte Winzling bereits nach einer Viertelstunde tot. Wie trotzt ein Wintergoldhähnchen dieser Erfrierungsgefahr?

Der winzige Vogel kann an einem kalten Wintermorgen bis zu 1,5 Gramm weniger als am Vorabend wiegen. Dies entspricht einem nächtlichen Gewichtsverlust von einem Viertel des Körpergewichts.

Während Jahren wurde das Wintergoldhähnchen von Ellen Thaler, frühere stellvertretende Direktorin des Alpenzoos Innsbruck, beobachtet. Ihr ist rasch aufgefallen, dass das Körpergewicht im Verlauf eines Tages extrem stark schwankt. Der winzige Vogel kann an einem kalten Wintermorgen bis zu 1,5 Gramm weniger als am Vorabend wiegen. Dies entspricht einem nächtlichen Gewichtsverlust von einem Viertel des Körpergewichts. Übertragen auf den Menschen wären das 15 bis 20 Kilogramm Gewichtsverlust in einer Nacht! Abgebaut wird dabei fast ausschliesslich Körperfett. Der Stoffwechsel leistet in einer Winternacht fünf Mal mehr Umsatz als bei Normaltemperaturen. Die so produzierte Wärme bewahrt das Wintergoldhähnchen vor dem Erfrieren. Von dieser gewaltigen Leistung ist äusserlich ausser nächtlichen Kotausscheidungen nichts erkennbar. Der Körper des schlafenden Vogels muss jedenfalls Schwerarbeit leisten, ein Phänomen.

Fressen heisst das Überlebensmotto

Rastlose Suche nach Springschwänzen und anderen wirbellosen Kleintieren in den Nadeln der Fichten und Tannen prägen das Tagesprogramm eines Wintergoldhähnchens in der kalten Jahreszeit. Innert weniger Stunden muss der Nachtproviant in Form von Körperfett wieder aufgefüllt werden. Misslingt ihm dies, wird es die nächste Winternacht nicht überleben können. Äusserst kritisch ist ein Niederschlag. Überfriert in der Folge der Schneemantel über den Fichtenzweigen, versiegt die Nahrungsquelle. Bereits in der folgenden Nacht werden viele verhungern, weil sie tagsüber zu wenig Nahrung aufnehmen konnten. Gemäss einer Studie aus Finnland überleben im hohen Norden neun von zehn Wintergoldhähnchen die kalte Jahreszeit nicht.

Ist ein Starrezustand nicht möglich?

Warum fällt das Wintergoldhähnchen nicht wenigstens über Nacht in einen energiesparenden Tiefschlaf, wie dies andere Vögel wie Kolibris oder auch die nestjungen Mauersegler bei fehlendem Futternachschub können? Einen solchen Starrezustand nennt man übrigens Torpor. Eine mögliche plausible Erklärung ist, dass die Vögel in unseren Breiten im Verlaufe einer langen Winternacht jederzeit mit einer Attacke von Eulen oder Baummardern rechnen müssen. Tiere im Starrezustand sind reaktionsunfähig und deshalb eine sichere Beute für Feinde, es sei denn, sie können sich in eine schützende Höhle tief unter dem Schnee zurückziehen, wie beispielsweise das Alpenschneehuhn.  

Zitierte Literatur:

KELLER, V. ET AL. (2020): European Breeding Bird Atlas 2: Distribution, Abundance and Change. European Bird Census Council & Lynx Editions, Barcelona.

WILLI, G. (2019): Brutvogelatlas des Fürstentums Liechtenstein. Naturkundliche Forschung im Fürstetum Liechtenstein, Band 31.

Der Autor Georg Willi wurde 1947 in Rheineck (SG) geboren und studierte an der ETH Forstwirtschaft. Er war über 35 Jahre in einem privaten Ingenieurbüro für Natur- und Landschaftsschutz tätig. Georg Willi ist auch Autor des 2019 herausgegebenen «Brutvogelatlas Liechtenstein», der beim Amt für Umwelt gratis bezogen werden kann. Georg Willi beschäftigt sich seit seiner Jugend mit der Ornithologie. Durch seine über 40-järige Beobachtertätigkeit in Liechtenstein ist er ein ausgewiesener Kenner der heimischen Vogelwelt.