von Gabi Eberle
Wer das Rentenalter fast erreicht hat, fühlt sich heute so jung wie die Vierzigjährigen der vorherigen Generation, sagen viele Altersforscher. Das jugendliche Altern setzt sich zunehmend durch. Eine gute Nachricht. Doch da die Medaille bekanntlich zwei Seiten hat, wurde im Zuge der Themenreche zu diesem Artikel auch die Suche nach dem sprichwörtlichen Pferdefuss nicht ausgelassen.
60 ist das neue 40. Wer genau diese schlagkräftige Aussage in Umlauf gebracht hat, lässt sich nicht ausmachen. Danach gegoogelt, taucht sie erstmals um 2014 auf. Beim Scrollen stösst man ein paar Zeilen weiter unten auf «7 Dinge, die man noch mit 60 machen kann»: Um die Welt reisen, das Abenteuer Auswandern wagen, ein (zweites) Studium beginnen, einen Marathon laufen, ein Start-up gründen, die grosse Liebe finden, richtig guten Sex haben, eine WG gründen. Gut zu wissen, wobei die praktische Durchführung der einzelnen Punkte nicht zwingend bzw. überlebenswichtig ist. (Der aufmerksame Leser/die Leserin bemerkt das Augenzwinkern)
Klar, mit 60 kann man noch Marathon laufen, auf Berge steigen, sich in einem Beruf selbstständig machen, einen Computerkurs belegen, eine Sprache oder ein Instrument lernen.
Jedenfalls vermittelt die verheissungsvolle Botschaft, dass das biologische Alter relativ, vor allem aber kraft eigenen Zutuns beeinflussbar geworden ist. Das hat auch zur Folge, dass die Generationszugehörigkeit subjektiv empfunden wird. 60-Jährige fühlen sich 40-Jährigen oft näher als Gleichaltrigen oder Älteren. Klar, mit 60 kann man noch Marathon laufen, auf Berge steigen, sich in einem Beruf selbstständig machen, einen Computerkurs belegen, eine Sprache oder ein Instrument lernen. Geht alles. Dennoch lässt sich der Alterungsprozess trotz einer Milliarden-Schönheits- und Fitnessindustrie nicht aufhalten. (Pferdefuss 1: Längst nicht jeder Senior/jede Seniorin verfügt über das nötige Kleingeld, um sich solche «Luxusausgaben» leisten zu können; siehe S. 6–9, «Wie weiter nach der Franchisebefreiung?» von Dr. Marcus Büchel).
Jeder ist seines Alters Schmied
Alle Lebensphasen haben ihre Herausforderungen. Vor allem im späteren Erwachsenenleben sieht man ihnen oft mit gemischten Gefühlen, manche sogar mit blanker Panik, entgegen. Auf sie wirkt der Spruch «Die Sechziger sind das Aufwärmtraining fürs positive Altern», der bei den «Best Agern» über Whatsapp die Runde macht, wenig beruhigend. Während die einen scheinbar alterslos in Sneakers, Kapuzenpullis, farbenfroher Funtionskleidung durch die Gegend hüpfen, fühlen sich die anderen zunehmend alt, müde und verbraucht.
Der Alterungsprozess, der genetisch bedingt nicht bei jedem gleich abläuft, lässt sich de facto nicht aufhalten. Doch gibt es zweifelsohne zahlreiche Regler, mit denen am biologischen Alter gedreht werden kann. «Jede Generation wird statistisch gesehen etwa 7,5 Jahre älter als die Generation davor», erklärt Sven C. Voelpel. Der in Bremen lehrende Professor und Bestsellerautor («Entscheide selbst, wie alt Du bist») hat eine rundum positive Einstellung zum Altern – und erkennt genau darin einen Schlüssel für das vieldiskutierte Verjüngungsphänomen. «Wer das Alter positiv sieht, lebt statistisch betrachtet länger. Sprich: Wer ‹jung› denkt, bleibt jung.» Das leuchtet ein und ist sicher nicht verkehrt.
Bislang hat man mit alte(rnde)n Menschen vor allem Gebrechlichkeit, Langsamkeit, auch Krankheit und Todesnähe assoziiert.
Vergleicht man die berufstätigen 55- bis 64-Jährigen mit gleichaltrigen Rentnern, gibt es zunächst einmal durchaus Gemeinsamkeiten: Beide Gruppen – auch die Ruheständler – sind trotz ihres «Seniorenstatus» im Allgemeinen aktiver als früher, leben gesünder und sehen auch jünger aus als ihre Eltern damals. Dies dank des medizinischen Fortschritts und besserer Lebensbedingungen. Bislang hat man mit alte(rnde)n Menschen vor allem Gebrechlichkeit, Langsamkeit, auch Krankheit und Todesnähe assoziiert. Und natürlich ist auch dies ein Grund, warum sich die meisten bemühen, fit, gesund und beweglich zu sein – oder zumindest so rüberzukommen.
«Jung bleiben beim Älterwerden», «Älter werde ich später» oder «Das Ende des Alterns» – drei Buchtitel, deren Botschaft dieselbe ist: Altern ist kein Schicksal. Mit den richtigen Massnahmen lässt es sich verschieben, wenn nicht gar verhindern. Das aber bedeutet: Wem es nicht gelingt, «jung» zu bleiben, ist selbst schuld. Der moderne Mensch trägt die Verantwortung für sein Aussehen, seine Gesundheit. Er ist seines Alters Schmied. (Pferdefuss 2: sozialer Druck).
Ausruhen vs. anti-aging
Gesicht, Körper, Gang und Haltung sagen etwas über das Leben eines Menschen aus. Sie lassen erkennen, wie angenehm oder anstrengend es war. Wie viel Kraft es ihn kostete, seine Ziele zu erreichen, alltägliche Aufgaben in Beruf und Familie zu erfüllen. Zeit- und Konkurrenzdruck, Überforderung, Existenzangst, Schlafmangel, Krankheiten und andere Schicksalsschläge rauben Kraft und Energie. Wer immer wieder unter Stresssymptomen litt, strotzt mit 65 nicht vor Unternehmungslust. Er will sich ausruhen, durchatmen. Nicht faul oder träge werden, aber alles gemächlicher angehen als bislang. Nur: Diese Art von Ruhestand ist nicht mehr zeitgemäss. «Wer rastet, der rostet», warnen Experten für Anti-Aging.
In der heutigen, auf Leistung und äussere Perfektion getrimmten Gesellschaft gelten jugendliche Körper als ästhetisches Ideal, und ein ungeschriebenes, aber nicht minder wirksames Gesetz verlangt, dem Vergleich mit der Jugend so lange als möglich standzuhalten (Pferdefuss 2: gesellschaftlicher Druck). Anti-Aging-Experten haben dem Altern den Kampf angesagt. In Werbung und Medien propagieren sie zahlreiche Massnahmen, die lang anhaltende Frische, Glätte, Anziehungskraft und Belastbarkeit versprechen.
Erfolgreiche Schönheitsoperationen verwandeln den alternden Körper zwar nicht in einen jungen, doch zumindest in einen, der jünger aussieht, als er in Wahrheit ist. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass attraktive, jung und dynamisch wirkende Menschen überall im Leben leichter ihre Ziele erreichen und mehr Privilegien geniessen als solche, die müde, verbraucht und – im wahrsten Sinne des Wortes – alt aussehen.
Nicht zu vergessen die ästhetische Chirurgie, die manche Begleitsymptome des Alterns tilgen kann. Erfolgreiche Schönheitsoperationen verwandeln den alternden Körper zwar nicht in einen jungen, doch zumindest in einen, der jünger aussieht, als er in Wahrheit ist. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass attraktive, jung und dynamisch wirkende Menschen überall im Leben leichter ihre Ziele erreichen und mehr Privilegien geniessen als solche, die müde, verbraucht und – im wahrsten Sinne des Wortes – alt aussehen. Ohne Zweifel ist das so. Was jedoch etwas irritiert ist, dass Jungsein zum Mass aller Dinge erhoben wird, inzwischen sogar als Leistung gilt. Wer nicht mitmacht bei der Selbstoptimierung, macht sich schnell verdächtig. Andererseits: Ästhetik ist kein Privileg der Jugend, gepflegtes Aussehen ebenso wenig (Frauen bleiben eitel bis ins hohe Alter, Männer nicht unbedingt). Wer sich mit 60plus darum bemüht, gut auszusehen, sich um seine geistige Gesundheit, seinen Körper und sein Äusseres kümmert, tut sich selbst einen Gefallen, muss dabei aber nicht unbedingt einen ganzen Schönheitsapparat in Bewegung setzen.
Die Altersfreiheit nutzen
In der westlichen Welt ist das kontemplative (betrachtend, beschaulich, besinnlich) längst dem Ideal des aktiven Lebens gewichen. Weisheit und Musse, das waren einmal die Freuden der Alten, zumindest der gebildeten und begüterten Schichten. Es scheint, als reichten gesunde Ernährung, mässiger Sport, geistige Interessen und die Pflege von Freundschaften nicht mehr aus, um gut zu altern. Zunehmend mehr Ruheständler haben einen volleren Terminkalender als während der Erwerbsarbeit. Diverse Wirtschaftszweige heizen deren Konsumlust und Tatendrang an.
Die neuen Stereotypen scheinen zum Teil nicht weniger tyrannisch als die früheren, die das Alter(n) mit Langeweile und Verfall verbanden.
Politiker und Ökonomen fordern, das Potenzial und die Ressourcen der «Best Ager» zu nutzen. Diese sollen nicht nur auf Reisen gehen und ihren Hobbys frönen, sondern auch länger arbeiten und sich ehrenamtlich engagieren (Pferdefuss 3: kann wiederum Druck machen). Gut und schön, wenn sie das denn wollen. Doch sollte das Wollen nicht zum Müssen werden. Die neuen Stereotypen scheinen zum Teil nicht weniger tyrannisch als die früheren, die das Alter(n) mit Langeweile und Verfall verbanden. Denn sie zeichnen ein Bild, dem längst nicht alle Menschen jenseits der Sechzig entsprechen. Manche sind zu derart vielen Aufschwüngen nicht mehr fähig, andere gar nicht willens. Sie sind froh, wenn sie nicht mehr unter Leistungsdruck stehen, in Ruhe die Klassiker lesen, malen, musizieren oder einfach sich mal treiben lassen können.
Resümee: Gut auf sich achten, sich pflegen, regelmässige Bewegung, Körper und Seele mit Gesundem und Schönem füttern, eine Aufgabe haben bzw. einer Arbeit nachgehen, die Freude bereitet, sich etwas gönnen fördert das eigene Wohlgefühl und stärkt das Selbstbewusstsein. Wer sich bei dabei mit 60 wie mit 40 fühlt – Glückwunsch! Das Älterwerden hat im besten Fall eine Menge Vorteile: mehr Gelassenheit, mehr innere Unabhängigkeit, mehr Zeit und den Luxus, nicht mehr ständig Lebensentscheidungen treffen zu müssen. Altersfreiheit nennt sich das. In diesem Sinne: Lassen Sie sich nicht verrückt machen und chillen Sie’s doch mal! (beliebter Jugendspruch für «faulenzen, sich ausruhen») Natürlich erst nach dem Sport.