von Gabi Eberle
Vermasselt. Abgelehnt. Verpasst. Zu spät davon erfahren. Zu viele Bedenken. Freunde rieten davon ab: Der kluge Umgang mit verpassten Chancen ist offenbar ein Schlüssel für gesundes Altern.
Es klingt so einfach: Man muss sich nur weniger über verpasste Gelegenheiten ärgern, und schon altert man zufrieden. Das zumindest besagt eine Studie, die deutsche Forscher im Wissenschaftsmagazin «Science» 2012 veröffentlicht haben. Wer nicht in die Grübelfälle tappen möchte, dem hilft zumindest schon mal die Logik, denn mit zunehmendem Alter werden die Chancen weniger, noch an den Stellschrauben des Lebens drehen zu können.
«Ach, hätte ich doch . . . Dann wäre vieles anders gelaufen.» Haben Sie sich diese Sätze auch schon einmal gesagt? Falls ja, geht es Ihnen wie vielen anderen auch. In diesen Gedanken steckt ein Zweifel, ein Kummer über Dinge, die wir nicht mehr ändern können, die ein für allemal vorbei sind, weil wir uns vor langer Zeit für das scheinbar Falsche entschieden, die gebotene Chance nicht ergriffen haben. Oder war es doch nicht verkehrt? Beim Kramen in alten Fotoalben, einer Schachtel mit Briefen schweifen die Gedanken Jahre zurück, alles scheint plötzlich so präsent, als wäre es gestern gewesen. Eine Postkarte eines Freundes aus Rom, datiert 1975: «La dolce vita! . . . zum Glück bleiben noch vier Monate. Schade, bist du nicht dabei!» Und plötzlich ist sie da, die Reue über die verpasste Gelegenheit von damals. Man war so begeistert, hatte aber nicht den Mut, wollte die Eltern nicht enttäuschen, war zu wenig selbstbewusst.
Ältere Menschen reagieren gelassener
Im Laufe des Lebens bleibt so manche Idee, mancher Traum auf der Strecke, eine Weichenstellung ist irgendwann unumkehrbar. Es gibt nicht mehr unendlich viele Möglichkeiten und irgendwann wird das Leben vorbei sein. Was den einen oder die andere in der Midlife Crisis umgetrieben hat, fällt einem womöglich mit 60plus nochmals vor die Füsse. Das passiert gerne in der Pension, wenn plötzlich sehr viel Zeit zur Verfügung steht. Man erinnert sich an frühere Lebensentwürfe und rechnet ab, was wirklich umgesetzt wurde – was per se ja nichts Schlechtes ist.
Verpassen kann man vieles: Züge, die grosse Liebe, mit einem Menschen Frieden geschlossen zu haben, der eben verstorben ist, ein Haus gekauft, damals den Job gewechselt, die unglückliche Beziehung früher beendet zu haben. Die verpasste Gelegenheit, die Chance, die man damals nicht ergriffen hat – mancher ärgert sich darüber, hadert mit dem Schicksal oder leidet sogar darunter. Eine verständliche Reaktion – zumindest bei Menschen jüngeren und mittleren Alters. Ältere Zeitgenossen, das zeigen viele Studien, reagieren auf verpasste Chancen oft deutlich gelassener. Der Grübelnutzen sinkt mit dem Alter. Schon mal eine gute Nachricht.
Versäumnisse lösen langlebigeres Bedauern aus als Taten
So manches im Leben entpuppt sich im Nachhinein als Fehlentscheidung. Doch auf lange Sicht bereuen wir vor allem Dinge, die wir nicht getan haben. (spectrum.de-5/22) Die Krux: Im Augenblick der Entscheidung weiss man nicht, ob man mit der getroffenen Wahl zufrieden sein wird.
Viele Entscheidungen sind trivial. Trinke ich gleich noch einen Kaffee? Soll ich die weisse oder die blaue Bluse anziehen? Gehe ich heute aus oder nicht? Andere haben weiterreichende Folgen: Partner-, Berufs-, Studien-, Wohnortwahl, Kinder in die Welt zu setzen oder eben nicht.
Du hattest es in der Hand. Hättest du damals anders entschieden, ginge es dir heute besser.
Hin und wieder stellt sich später heraus, dass wir besser damit gefahren wären, hätten wir den anderen Weg eingeschlagen. Die Reue, die darauf folgt, ist Ausdruck einer Selbstanklage: Du hattest es in der Hand. Hättest du damals anders entschieden, ginge es dir heute besser. «Dieses Bedauern ist das einzige Gefühl, das ausschliesslich nach Entscheidungen auftritt, die man selbst getroffen hat», erklärt der Psychologe Marcel Zeelenberg von der Universität im niederländischen Tilburg. Sprich: Uns betreffende Dinge, Vorkommnisse, die von aussen gesteuert, entschieden werden, entbinden uns sozusagen vom Reuegefühl. Allgemein tendieren wir dazu, unangenehmen Emotionen möglichst aus dem Weg zu gehen. Bei jeder Wahl bedenken wir deshalb, wie sehr wir sie irgendwann bereuen könnten. «Regret anticipation» nennt Zeelenberg dieses Vorgefühl.
Eine weitere Umfrage kommt zu einem ähnlichen Resultat: «Je grösser die Konsequenzen einer Wahl sind, desto grösser ist in der Regel mein Bedauern, wenn sie sich danach als schlecht herausstellt», bestätigt Kai Epstude, Sozialpsychologe der Universität Groningen. «Das gilt vor allem dann, wenn diese Entscheidung nicht irgendwelchen äusseren Zwängen geschuldet war, sondern tatsächlich in meiner Macht stand.»
Kontrafaktisches Denken: Was hätte sein können
Um bereuen zu können, braucht es eine spezielle Fähigkeit: Wir müssen uns vorstellen können, wie unsere Welt aussehen würde, hätten wir damals die Chance ergriffen. In der Psychologie spricht man auch von «kontrafaktischem Denken» (entgegen den Fakten, nicht der Wirklichkeit entsprechend). Kinder entwickeln diese Gabe vermutlich erst mit fünf oder sechs Jahren. Bis zu dem Alter lässt es sie ziemlich kalt, wenn sie zwischen zwei Alternativen die schlechtere wählen. Erst wenn sie dazu in der Lage sind, ihre Wahl zu bedauern, lernen sie, im besten Fall, aus jener Erfahrung für künftige Entscheidungen.
Die Weichenstellungen in unserem Leben, die wir am stärksten infrage stellen, betreffen erstaunlich selten das liebe Geld oder irgendwelche Anschaffungen. «Wir bedauern die Fehlentscheidungen, verpassten Chancen am intensivsten, von denen wir das Gefühl haben, dass unser Leben heute anders aussähe, wenn wir damals anders gewählt hätten», sagt Marcel Zeelenberg. Das sind zum Beispiel Entscheidungen in der Liebe und im Umgang mit der Familie.
Der Spatz in der Hand oder . . .
Nicht ausser Acht gelassen werden sollte, welcher Typ Mensch man ist bzw. in der Grundstruktur immer schon war: Da gibt es die, welche stets den sprichwörtlichen Spatz in der Hand wählen und auf Nummer sicher gehen, der andere strebt zeit seines Lebens die Taube auf dem Dach an, geht dabei mehr Risiken ein, ergreift Chancen, auch wenn sie keinen doppelten Boden bieten und der Ausgang ungewiss ist. Allgemein stellt sich die Frage, ob es überhaupt falsche Entscheidungen gibt, denn man hat es so (gut) gemacht, wie es einem zum damaligen Zeitpunkt möglich war, die Umstände, der eigene Entwicklungsstand es zugelassen haben. Und: Entscheidungen sind oft Kompromisse. Das eine zu tun, birgt im Umkehrschluss, das andere zu lassen.
Eines scheint klar zu sein: Ein gelassener Umgang mit Chancen, die man im Laufe seines Lebens verpasst hat, spielt eine entscheidende Rolle für die Lebenszufriedenheit im Alter. Wer sich mit verpassten Chancen aussöhnen kann, lebt zufriedener (Psychologie Heute 5/2017). Und zurück geht nun mal nicht. Nicht einmal die vergangene Stunde lässt sich ändern. Ob es einem besser bekommen wäre, wenn man damals einen anderen Weg beschritten, eine andere Wahl getroffen hätte, lässt sich schwer ausmachen. Die ungenutzten Möglichkeiten auszuloten, wenn man dies als Gedankenspiel tut, ohne zu hadern, ist erlaubt. Gedanken sind bekanntlich frei.
Mit verpassten Chancen leben
Es ist zweifelsohne von Vorteil, wenn wir Vergangenes zu den Akten legen können. Wer im «Hätte, hätte, Fahrradkette»-Modus verharrt, wird auf Dauer nicht glücklich. «Wenn sich Reue ständig wiederholt, ist das der psychischen Gesundheit nicht gerade zuträglich», betont Kai Epstude. So stecken Menschen mit Depressionen häufiger in einer solchen Dauerschleife fest. Wie lässt sich das verhindern? Zunächst einmal durch etwas mehr Realismus. Denn wir bedauern nicht ergriffene Möglichkeiten oft auch deshalb so stark, weil wir die Alternative überschätzen: Das Gras auf der anderen Seite scheint immer grüner. Vor allem, wenn über die nicht gewählte Option wenig Informationen vorliegen, wie 2022 eine Studie von Wissenschaftlern aus England und Spanien zeigt: Dann erscheint sie in der Fantasie womöglich viel toller, als sie in Wirklichkeit ist.
Nicht jede verpasste Chance ist ein Verlust, nicht jede genutzte Gelegenheit ein Gewinn. Die Gründe, weshalb man damals so und nicht anders entschieden, die sich einem gebotene Möglichkeit ausgeschlagen hat, sind vielfältig: Man war nicht bereit, nicht offen genug, es war der falsche Zeitpunkt, andere Herausforderungen standen im Vordergrund, ein Familienmitglied oder man selbst war krank, die Sterne standen ungünstig oder es war gerade alles in Ordnung und es fehlte an nichts. Und manchmal scheint auch eine höhere Macht seine Hände im Spiel (gehabt) zu haben: das Schicksal – wenn man denn an dieses Phänomen glaubt.
Kürzlich feierte die Queen, deren Lebensweg von Geburt an vorbestimmt war, ihr 70. Thronjubiläum. Obwohl sie sich mit Äusserungen zu ihrer Person, ihren Gedanken stets bedeckt hält, soll sie einmal gesagt haben: «It just shouldn’t be.» (Es sollte halt nicht sein). Eine kluge Frau.