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60Plus | Literatur | Juni, 2023
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Heinz Rüegger: Eine Lebenskunst des Alterns

eine persönliche Betrachtung von Elisabeth Seger

Heinz Rüegger, Schweizer Theologe und Gerontologe, möchte mit seinem neu erschienenen Buch seine Leser anregen zu einer «Lebenskunst des Alterns», die man einüben und praktizieren kann, sodass Altsein zu einer bereichernden Lebenserfahrung wird. Die einzelnen Kapitel sind gut unabhängig voneinander zu lesen. So habe ich gleich mit dem letzten Kapitel angefangen:

Sinnfindung

Hermann Hesse schreibt: «Das Greisenalter ist eine Stufe unseres Lebens und hat wie alle andern Lebensstufen ein eigenes Gesicht, eine eigene Atmosphäre und Temperatur, eigene Freuden und Nöte. Altsein ist eine ebenso schöne wie heilige Aufgabe.»

Hört sich gut an und sagt sich so leicht, dachte ich mir. Beim Weiterblättern wurde es dann schon konkreter:

«In alltäglichen, einfachen Lebensfreuden erschliessen sich Sinnelemente . . . Etwa das Stück Wiese vor dem Haus und ihr tiefes Grün, der Duft der Rosen, eine Grusskarte der jüngsten Enkelin, ein liebes Telefongespräch, ein unerwarteter Besuch. Wir müssen alles ganz bewusst wahrnehmen, mit allen Sinnen, soweit es uns Augen, Ohren und Nase noch möglich machen, (!!) es auskosten, und diese Eindrücke und Freuden auch mitteilen.»

Stimmt! Deshalb fühl ich mich wohl in Gesellschaft älterer Frauen und Männer, bei denen ich spüre, dass sie diese Kunst beherrschen.

Sinnfindung durch Generativität (das gegenseitige Angewiesensein der Generationen)

«Die Erfahrung, für andere Menschen bedeutsam und ihnen nicht gleichgültig zu sein, ist zentral für das Wohlbefinden einer Person . . . Dies gilt auch für das Alter, etwa im Hinblick auf freiwillige oder ehrenamtliche Tätigkeiten im sozialen Bereich. Aber auch in Situationen zunehmender Gebrechlichkeit, wenn der Eindruck überhandnehmen kann, man sei für niemanden etwas wert und falle andern nur noch zur Last, bleibt der Wunsch bestehen, für andere bedeutsam zu sein.»

Ich glaube, es braucht viel Geduld, Kreativität, Vernetzung, Koordination, damit dieser «Samen» aufgeht.

Zeitpolster, Seniorenaktivitäten in den Gemeinden, Begegnungsräume, Aktivitäten des Seniorenbundes, «Senioren gemeinsam aktiv» usw. Da ist in unserem Land viel entstanden in letzter Zeit. Ich glaube, es braucht viel Geduld, Kreativität, Vernetzung, Koordination, damit dieser «Samen» aufgeht. Aktivitäten für Senioren sind auch dahingehend zu entwickeln, dass Senioren für andere etwas tun dürfen, selbstverständlich in der eigenen Familie und Verwandtschaft, aber auch darüber hinaus.

«Eine wesentliche kulturell bedeutsame Form von Generativität alter Menschen dürfte nicht nur darin bestehen, innerfamiliär die jüngere Generation zu unterstützen, materiell oder durch die Betreuung von Enkelkindern, sondern in der Art, wie sie selbst den Prozess des Alterns leben, wie sie Alter als eigenständige Lebensphase bejahen, seine spezifischen Chancen wahrnehmen und sich seinen Herausforderungen stellen. Dadurch ermutigen sie jüngere Generationen, erwartungsvoll und bejahend ihr eigenes Alter zu antizipieren.» (vorwegzunehmen)

Auch wenn meine Söhne in der Rush hour des Lebens stehen und nicht ans Altwerden denken, könnten sie ja doch aus dem Augenwinkel etwas von mir mitbekommen für später.

Das heisst, dass die jüngere Generation durch unser Vorbild angeregt werden kann, wie positiv altern geht. Eine interessante Aufgabe für mich. So habe ich das bisher noch nie gesehen. Auch wenn meine Söhne in der Rush hour des Lebens stehen und nicht ans Altwerden denken, könnten sie ja doch aus dem Augenwinkel etwas von mir mitbekommen für später.

«Zu generativem Verhalten, das auch noch in hohem Alter und bei ausgeprägter Gebrechlichkeit gelebt werden kann, gehört auch das wohlwollende Interesse, das man Jungen entgegenbringt und die Anerkennung, die man ihnen zuteil werden lässt.»

Ich kann jetzt schon meinen Enkeln zuhören und anerkennen, was sie gut machen. Ich muss sie ja nicht erziehen wie die Eltern das müssen. Und wenn ich hochbetagt bin und hoffentlich geistig präsent, freu ich mich jetzt schon, was sie mir erzählen werden.

Sinnfindung durch Bewältigung von Erfahrungen von Minderung und Verletzlichkeit

«Menschsein in seiner Fülle gibt es nur in einem Miteinander von Glück und Unglück, Stärke und Schwäche, Gesundheit und Krankheit, Autonomie und Abhängigkeit, Wachstum und Minderung, Freude und Traurigkeit.» «Ein starkes selbstgewisses und volles Leben führen heisst Schwächen zulassen und mit ihnen umgehen können.» «Herausforderungen und Zumutungen des Schicksals gehören zu dem, was uns im Leben wachsen, reifen und Tiefe gewinnen lässt.»

Dass ich Vorstellungen und Möglichkeiten loslassen muss, ob ich will oder nicht, habe ich irgendwie schon gewusst, selbst erfahren, gehört. Jedoch: Heinz Rüegger drückt es so klar und prägnant aus, dass es mich nochmals mehr erreicht.

Jedem Kapitel fügt der Autor eine persönliche Reflexion an, die ich jeweils besonders anregend finde, da man sie lesen kann, ohne das ganze Kapitel durcharbeiten zu müssen. Ein Beispiel:

Persönliche Reflexion (Seite 147)

  • Gibt es alltägliche Aufgaben, Verrichtungen und Erlebnisse, die für Sie zu kleinen Sinnantworten werden?
  • Welche gegenwärtigen Aktivitäten machen für Sie besonders Sinn?
  • Worin erleben Sie ihr gegenwärtiges Tun für andere bedeutsam?
  • Erkennen Sie im Rückblick auf ihr Leben so etwas wie einen roten Sinnfaden, der Ihr Leben durchzieht?

Abschiedlich leben

Der Theologe Fulbert Steffensky schreibt: «Abdanken ist ein schönes altes Wort. Es heisst, sich mit Dank verabschieden, sich selber und die eigene Weise, den andern nicht als Diktat hinterlassen, nicht erwarten, dass sie uns ähnlich sind. Abdanken – das heisst, sich nicht in Bitterkeit und Resignation abwenden, sondern mit Schmerz und in Heiterkeit zugeben, dass unsere Kinder und Kindeskinder ihre eigenen Wege gehen, so wie wir sie früher gegangen sind. Unsere Kinder sind nicht dazu da, uns selber fortzusetzen. Abdanken zu können ist ein Stück Gewaltlosigkeit, die uns Alte schöner macht und die bewirkt, dass unsere Nachkommen mit Güte und Zärtlichkeit an uns denken können.» Das wünsche ich mir, dass meine Nachkommen in Güte und Zärtlichkeit an mich denken. Erleben werde ich es nicht mehr, aber hoffen kann ich es.

Fazit: Die Lebenskunst des Alterns gilt es immer wieder neu zu lernen, im Sinne von «Pro Aging» seine Möglichkeiten und Herausforderungen positiv zu nutzen, anstatt dem Anti-Aging-Trend nachzulaufen.

  • Heinz Rüegger: Lebenskunst des Alterns
  • Gerontologische und theologische Aspekte
  • Theologischer Verlag Zürich 2022, ISBN 978-3-290-18531-2
  • Dieses Buch ist in der Landesbibliothek erhältlich.