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60Plus | Porträt | Juni, 2023
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Lebens(k)reise einer Künstlerin

von Gabi Eberle

 

«Kreieren ist das Einzige, was ich kann», sagt Anne Demanet, Künstlername Artemis, 1941 in Saint-Germain-en-Laye nahe Paris im Sternzeichen Widder geboren. Die Eigenschaften, welche diesem Sternbild zugeordnet werden – leidenschaftlich, mutig, willensstark, temperamentvoll, unabhängig – offenbaren sich nach und nach, während sie ihre Geschichte erzählt.

Das Zuhören wird zum Eintauchen in einen imaginären Film über ein Leben, dessen Drehbuch immer wieder neue, unerwartete Wendungen nimmt. Etwas vom ungezähmten Mädchen von damals ist noch da. Eine Mischung aus Leichtigkeit, Begeisterung, Freude und Schmerz. Während 20 Jahren lebte die Textilkünstlerin, Liedtexterin und Sängerin auf der griechischen Insel Tinos, wo unter anderem die Tapisserie-Zyklen «Die Odyssee» und «Das Grosse Einhorn» entstanden. «Ich wollte und will ehrlich sein auf meinem Weg. Auch in der Kunst. Das ist mir wichtig.»

In ihrer Wohnung in Schaan entsteht im grossformatigen Webrahmen nach einer Bleistift-Handskizze ein Porträt von Lucinda, eine ihrer drei Enkelinnen. Die Geburt der ältesten, Rosalie, war vor 17 Jahren der Grund, dass Artemis wieder zurück nach Liechtenstein kam. «Meine Tochter Eva war berufstätig und so kümmerte ich mich während der ersten neun Monate um die Kleine. Es entstand ein enges Band zwischen uns, das bis heute besteht. Dann folgten die Geburten meiner beiden kleinen Sterne Lorena und Lucinda. Mein Leben war wieder in Liechtenstein, in der Nähe meiner Familie, die ich so sehr vermisst hatte.»

Vom schüchternen Mädchen zur Sängerin

Die Kreativität des künstlerischen Multitalents zeigte sich früh. Mit drei Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen – ihre Eltern trennten sich, als Anne ein Jahr alt war -, bastelte sie aus Karton ihr eigenes Spielzeug. «Irgendwie habe ich meinen Weg alleine gemacht. Wir lebten am Stadtrand, neben einem Wald, und während des Sommers jeweils drei Monate lang in einem Zelt am Meer, machten Feuer … das war sehr schön. Dort habe ich zu singen begonnen.» Ihre Schulzeit beendete sie im 2. Gymnasiumjahr. «Hausaufgaben, lernen, vor allem Deutsch … das war schrecklich für mich. Eines Tages kam ich nach Hause und sagte zu meiner Mutter: ‹Ich gehe nicht mehr zur Schule.› Mein Entschluss stand fest.» Danach schlug sie sich mit kleinen Jobs durch. «Ich war schüchtern, nie an Partys, die meiste Zeit zu Hause, hatte weder schöne Kleider noch Geld. Als ich 16 Jahre alt war, im Sommer 1957, bewarb ich mich als Sängerin in einem Tanzlokal, das sich in der Nähe des Campingplatzes befand, und durfte noch am selben Abend dort auftreten. Ich war sehr nervös, doch kam beim Publikum gut an. Der Besitzer des Lokals engagierte mich. Mit dem ersten Lohn kaufte ich mir einen tragbaren Plattenspieler und eine Schallplatte mit der 5. Sinfonie von Beethoven, mit dem zweiten ein schönes Bühnenkleid», erinnert sie sich zurück. Die Musik, das Komponieren im Kopf – Notenschreiben hat Anne nie gelernt –, Texten war und ist Teil ihrer inneren und äusseren Welt. 1974 und 1981 gab sie Konzerte im Theater am Kirchplatz in Schaan und kehrte mehr als 40 Jahre später, im vergangenen September, mit dem Porrima Ensemble, neuer Musik, neuen Musikern dorthin zurück. In Zusammenarbeit mit Dirigent Gero Pitlok , Karl Gassner, Moritz Huemer, Martin Real, Jean-Jacques Mengou-Tata, Larry Woodley und den SängerInnen Rosalie Mengou-Tata, Lorena Vonbun, Lucinda Mengou-Tata und Gary Islitzer entstand eine Doppel-CD.

Paris, Liechtenstein

Zeitsprünge beim Erzählen – Artemis ist gedanklich wieder in Frankreich. Während zweier Jahre sang sie in verschiedenen kleinen Pariser Kabaretts. «Beim Singen und Gitarrespielen an der Pariser Seine lernte ich einen Studenten der Kunstschule l’École des Beaux-Arts kennen. Sein Angebot, ihm Modell zu stehen, lehnte ich ab, wollte aber gerne an einer Wallfahrt der Schule, die zu Fuss von Notre-Dame de Paris bis zur Notre-Dame de Chartres führte, teilnehmen. Es war im Mai 1961, ich war zwanzig Jahre alt. Wir waren eine lustige Truppe mit Gitarren, Hüten, Wein … mit dabei war Martin Frommelt. Er war fröhlich, hat den Clown gemacht, jeden aufgemuntert, der müde war. Ich war begeistert und beeindruckt von ihm.» Er ging zurück nach Liechtenstein. Anne blieb in Paris. Im August desselben Jahres, auf der Rückreise aus einem Autostopp-Sommerurlaub in Griechenland, besuchte sie ihn in Schaan. «Ich kam barfuss, in eine Tunika gehüllt, mit wilden langen Haaren und Gitarre an. Ich verkörperte alles andere als das Idealbild einer potenziellen Schwiegertochter, war für viele eine Aussenseiterin.»

«Ich wollte ihm unbedingt zuschauen, hatte das Gefühl, dass mir das auch gefallen könnte und war sofort fasziniert.»

1963 ging sie, obwohl nie eine Kunstschule besucht, Martin künstlerisch zur Hand, wohnte in seinem Atelier. Bei grossen Projekten halfen zwei seiner Freunde mit. Einer davon, der Maler Erwin Dattendorfer aus Innsbruck, wollte sich in der Kunst des Gobelins experimentieren. «Ich wollte ihm unbedingt zuschauen, hatte das Gefühl, dass mir das auch gefallen könnte und war sofort fasziniert.» 1964 erneut zurück in Frankreich, erhielt Anne ein Paket aus Liechtenstein. «Martin und Erwin hatten für mich einen Webrahmen gebaut, Wolle und den gezeichneten Entwurf einer Madonna dazugelegt. Es wurde mein erstes Webstück. Daraus entwickelten sich weitere Ideen und ich wollte immer mehr eigene Kreationen schaffen.»

Das Paar heiratet in 1967. Anne arbeitet weiter mit dem Künstler zusammen, unterstützt ihn in seiner Arbeit. Sebastian, Eva und Melanie kommen zur Welt. «Ich war eine sehr glückliche Mutter, aber die Künstlerin war es weniger.» Obwohl ihr das Vertrauen in ihre Arbeit fehlt, webt sie Tapisserien, gewinnt einen Wettbewerb, erhält einen Auftrag, wird Zweite bei einem weiteren Wettbewerb. «Selbst künstlerisch tätig zu sein, wurde mir verwehrt. Der Mitbewerber wird leider nicht von allen geschätzt. Befreundete Künstler-Türen schlossen sich, was mich sehr schmerzte.» Die Kinder sind im Teenageralter, als Anne sich scheiden lässt und nach Vaduz zieht. «Es ist immer zu früh, aber für mich ging es nicht mehr weiter …»

Tinos

In den Monaten vor der Trennung reist sie erneut nach Griechenland. «Es war eine Fügung, ein Ruf, eine höhere Kraft. Ich war geblendet vom Licht und der Schönheit der Insel.» Als die Kinder ihre eigenen Wege gingen, im Ausland studierten oder arbeiteten, begann Artemis auf einem Stück Land der Insel ihr eigenes Zuhause zu bauen bzw. bauen zu lassen. «Meine innere Stimme leitete mich. Ich hatte kein Geld und so dauerte es fast zehn Jahre, bis das Haus fertig war. Jedes Mal, wenn ich eine Tapisserie verkaufte, ging es mit dem Bau ein Stück weiter.» Während der ersten drei Jahre gab es keinen Strom, kein Telefon und nur wenig Wasser. Sie vermisste es nicht, orientierte sich am Licht, an Sonne und Mond, webte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Während 20 Jahren lebte Artemis durchgehend in Griechenland. «Natürlich habe ich meine Kinder vermisst. Bis heute sind sie und inzwischen auch die Enkelkinder Moris, Rosalie, Lorena und Lucinda mein grösstes Geschenk.»

Was noch kommen soll

Seit 1984 fertigt die Künstlerin vorwiegend grossformatige Wandtapisserien, zu sehen unter anderem in der Liechtensteinischen Musikschule in Triesen und Eschen, im Liechtensteinischen Gymnasium, Verwaltungsgebäude der AHV, im Rathaussaal Vaduz und im Gemeindesaal Balzers. Ihr Schaffen ergänzten Einzel- und Gruppenausstellungen in Liechtenstein, Österreich, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien, Griechenland, Polen, in der Schweiz und den USA und Teilnahmen an Textilbiennalen und -Triennalen. Im September dieses Jahres folgt in Tournus/Burgund, in einer Abtei aus dem 12. Jahrhundert, eine weitere Ausstellung. Zuvor, sprich in den nächsten Tagen, reist Artemis erneut nach Tinos, ihre «seelische Heimat», um dort eine Tapisserie zu Ende zu weben. Hell und licht werde sie. Ihr Haus hat die Künstlerin nach langem innerem Abschiednehmen vor einigen Jahren verkauft. Das neue Zuhause auf der Insel ist zwischenzeitlich eine Wohnung direkt am Meer, die sie für ihre Familie erworben hat. Was bleibt noch an Wünschen? «Mein Tapisserie-Zyklus ‹Die Odyssee› entstand in Griechenland – diesen einmal dort auszustellen, ist mein Traum. Das monumentale 12-teilige Werk, das ich dem Musée Jean Lürçat et de la Tapisserie Contemporaine in Angers geschenkt habe, gehört nun zum Erbe der Musées de France. Gerne würde ich ein neues Konzert vorbereiten und eine weitere CD aufnehmen. Auch Rosalie möchte ich dabei ermutigen. Sie liebt das Singen, leuchtet auf der Bühne wie ein Stern. Die wahre Quelle meines Lebensglücks ist meine Familie.»