Methodisch-kritische Vorübung. Von Marcus Büchel
Man musste sechzehn Jahre warten, bis nach dem zweiten Armutsberichts des Amtes für Soziale Dienste 1 ein aktueller Bericht erschienen war. Da der erste Bericht über Armut in Liechtenstein 2 1997 und der zweite 2007 veröffentlicht worden war, wäre die Periodizität von zehn Jahren vorgegeben gewesen, weshalb der dritte 2017 fällig gewesen wäre. Ein solcher war zwar von verschiedenen Seiten eingefordert worden, aber der damals zuständig Minister Mauro Pedrazzini hielt eine Studie über Einkommensverteilung, Einkommensschwäche und soziale Benachteiligung nicht für erforderlich. Erst heuer wurde wieder ein Bericht zu diesem Themenkomplex aufgrund der Datenlage von 2020 erstellt 3, nunmehr vom Amt für Statistik.
Die drei Armutsberichte
Das ursprüngliche Ziel bestand darin, alle zehn Jahre die sozioökonomische Lage im Land zu untersuchen. Warum ist es wichtig, Untersuchungen in festen Intervallen durchzuführen? Mit Messungen in bestimmten Intervallen auf der Zeitachse erhält man einen sogenannten Längsschnitt, d. h. Daten über Entwicklungen. Die rein statische Einmalbeobachtung ist für sehr viele Fragestellungen wenig aussagekräftig. Erst mit Mehrfachmessungen kann man Erkenntnis darüber erhalten, wie sich ein System, ein Zellgewebe, die Grösse eines Heranwachsenden, die Wirtschaft oder ein ganzes gesellschaftliche System im Hinblick auf die untersuchten Merkmale verändert.
Ausgehend von dem Ziel, die Entwicklung der Einkommensverteilung, bei der Einkommensschwäche und Armutsgefährdung abzubilden, will das Amt für Statistik in Zukunft ein «Monitoring der Armutssituation in Liechtenstein» dadurch erhalten, dass es alle fünf Jahr eine diesbezügliche Datenerhebung vornimmt. So weit, so gut! Der Vorsatz, der ambitiöser ist als der ursprüngliche des Amtes für Soziale Dienste, ist natürlich zu begrüssen. Jedoch sei ein Vergleich der neuen Studie mit den beiden früheren des Amtes für Soziale Dienste nicht möglich, da, wie das Amt für Statistik betont, die nunmehr verwendeten Kennzahlen aufgrund unterschiedlicher Definitionen mit den Vorgängerpublikationen nicht vergleich bar sei.4
Wir beginnen mit der Betrachtung der «Entwicklung der Armutsgefährdung» also nicht 1997, sondern erst 23 Jahre später, was natürlich zu bedauern ist. Aber schauen wir vorwärts und glauben den Autoren, dass «die Öffentlichkeit und Politik zukünftig laufend über die Entwicklung der Armutsgefährdung in Liechtenstein informiert» werden wird und hoffen mit ihnen, dass die Definitionen sich nicht ändern und die Datenlage sich nicht verbessern wird.
Er ging von seiner Beobachtung aus, dass es «im reichen Fürstentum verschiedene Ansichten» über Armut gebe und stellt die rhetorische Frage, ob «3 oder 20 Prozent vom Leben unter dem Existenzminimum betroffen sind».
Eine späte «internationale» Beachtung fand der Armutsbericht aus dem Jahre 2007 nach 15 Jahren. Günther Meier griff das Thema unter Bezugnahme auf die Studie in der «Neuen Zürcher Zeitung» auf 5. Er ging von seiner Beobachtung aus, dass es «im reichen Fürstentum verschiedene Ansichten» über Armut gebe und stellt die rhetorische Frage, ob «3 oder 20 Prozent vom Leben unter dem Existenzminimum betroffen sind». Der Unterschied wäre enorm! Das Problem liegt nicht am Zahlenmaterial, sondern an den Definitionen.
Meine Aussage 6 im Bericht von 2008, dass es «Armut im eigentlichen Sinn Wortes bei uns nicht gibt», hatte offenbar spät eine provokative Wirkung entfaltet. Wir hatten damals argumentiert, dass die Sozialhilfeleistung, die praktisch einem Grundeinkommen gleichkommt, da sie unabdingbar ist, das geringstmögliche Einkommen darstellt. Die Sozialhilfe ist so angelegt, dass sie einem unteren Arbeitseinkommen entspricht. Das war damals, um es an einem Beispiel zu veranschaulichen, ein «verfügbares Einkommen» von 4000 Franken monatlich für eine Familie mit zwei Kindern 7. Um ein Nettoeinkommen in dieser Höhe zu erzielen, müsste ein Arbeiter einen Bruttolohn von 5000 bekommen. Und ein Einkommen in dieser Höhe 8, so die damalige Überlegung, kann nicht als Armut bezeichnet werden.
Ist das Glas halb voll oder halb leer?
15 Jahre später kommt man zu völlig anderen Aussagen. «Als arm gelten Menschen im Land, wenn sie vom Existenzminimum leben müssen», schreibt Valeska Blank im «Vaterland». Unter Bezugnahme auf den 23er-Bericht des Amtes für Statistik wird im «Vaterland» zwei Monate später ausgeführt, dass die Armutsquote im Land 3,1 Prozent betrage und 366 Personen im Land als «extrem arm» gelten würden. 3,3 Prozent der Haushalte (=475) waren es 2007, die auf Sozialhilfe angewiesen waren; das ist also praktisch dieselbe Prozentzahl. Also was nun? Sind 3,1 bzw. 3,3 Prozent der Haushalte nun arm oder nicht arm? Sind die Fakten anders oder die Zahlen falsch berechnet? Verbreitet jemand etwa Fake News? Nichts dergleichen. Statistiken bilden nicht Fakten ab, sondern Hypothesen, Betrachtungsweisen, ja auch Glaubenssätze.
Die neue Sprachregelung lautet: «Wir sehen mal von der staatlichen Hilfe ab, und somit müssen wir 377 Personen als ‹extrem arm› bezeichnen.»
Ist das Glas halb voll oder halb leer? Wir wollten 2008 zeigen, dass Liechtenstein ein gutes Sozialsystem hat, jeden auffängt und niemand in Armut leben muss. Heute will man zeitgeistig aufzeigen, wie schlecht es um die Welt bestellt ist. Die neue Sprachregelung lautet: «Wir sehen mal von der staatlichen Hilfe ab, und somit müssen wir 377 Personen als ‹extrem arm› bezeichnen.» Das Elend wird noch grösser, wenn man berechnet, wie viele arm wären, ohne AHV- und IV-Renten, Renten aus der beruflichen Vorsorge und der Unfallversicherung, Taggeldern aus Arbeitslosenversicherung, Krankenkasse und Unfallversicherung; ohne Kinder-, Geburts-, Alleinerziehenden- und Familienzulagen; ohne Krankenkassenprämienverbilligung, ohne Mietbeiträge, Ergänzungsleistungen, Hilflosenentschädigungen, Blindenbeihilfen, Stipendien, Mutterschaftszulagen und Unterhaltsbeiträge (Unterhaltsbevorschussung), Betreuungs- und Pflegegeld.
Diese verschiedenen Definitionen wirken gewiss verwirrend. Ich bin überzeugt, dass kaum jemand – es sei denn, er hätte gerade selbst eine Studie verfasst – aus dem Kopf ein zahlenmässig einigermassen zuverlässiges Bild von Armut und Einkommensverteilung im Lande von sich zu geben vermag.
Wir wollen nun einen kurzen Exkurs unternehmen, um darzustellen, dass statistische «Unschärfen», wie wir sie im Kleinen und anhand eines Beispiels aufgezeigt haben, den ganzen «Wissenschaftsbetrieb» durchdringt und wahrhaft globale Ausmasse annehmen kann. Derartige «Unschärfen» stellen eine grundsätzliche Problematik dar, die bei der Coronakrise als weltweit wirkendes Phänomen praktisch jedermann erfasste. Der Grossteil der Weltbevölkerung war nicht nur einschneidenden Massnahmen in einem bisher unbekannten Ausmass unterworfen. Das Chaos der täglichen Statistiken, die Widersprüchlichkeit der Aussagen von Forschern und einem Heer von Experten, führten zur Unsicherheit. Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft sowie massive Kritik am Expertentum nahmen epidemische Ausmasse an.
Was die Coronakrise mit der Unschärfe von Statistiken zu tun hat
Ein grundlegendes Problem liegt gewiss in der Statistik selbst begründet. Die Statistik spielte bei der sogenannten Pandemie eine Hauptrolle. Die Massnahmen, die getroffen wurden, stützten sich beinahe allesamt auf statistische Darstellungen. Die Statistik beruht zwar durchaus auf mathematisch rationalen Modellen, aber sie ist im Prinzip auch eine Wissenschaft, die Vieldeutigkeit produziert. Wird überhaupt das gemessen, was gemessen werden soll (Validität)?; sind die Messungen zuverlässig (reliabel)? Welche Vorannahmen stecken in den Statistiken? Wie werden sie interpretiert? Ich lasse an dieser Stelle Mattias Desmet, einen Psychologieprofessor aus Gent, zu Wort kommen, der kürzlich ein bemerkenswertes Buch zum Thema «Totalitarismus» veröffentlicht hat. Er beschreibt darin eine Entwicklung freiheitlich-westlicher Gesellschaften zu zunehmend totalitären Systemen. Die Wissenschaften spielen dabei eine wesentliche Rolle.
In diesem «Wald der Subjektivität» folgt jeder, bewusst oder unbewusst, den eigenen Vorurteilen, und man greift sich meist die Zahlen heraus, die die eigenen subjektiven Überzeugungen bestätigen.
«Die Basiszahlen in der Coronakrise sind also keine objektiven Daten, sie werden auf der Grundlage einer Reihe von subjektiven Annahmen und Vereinbarungen konstruiert. Und unabhängig davon, wie diese Vereinbarungen getroffen werden, unterscheiden sich die Zahlen leicht um einen Faktor 15 oder gar 20. In diesem «Wald der Subjektivität» folgt jeder, bewusst oder unbewusst, den eigenen Vorurteilen, und man greift sich meist die Zahlen heraus, die die eigenen subjektiven Überzeugungen bestätigen. Manche schliessen daher aus den Daten, dass wir es mit einem Problem im Ausmass der Spanischen Grippe zu tun hätten, andere, dass es keinen Grund zur Aufregung gebe.»
«Im Coronadiskurs erkennen wir so eine ganze Reihe von Merkmalen des Diskurstyps wieder, der zum Aufkommen der grossen totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts führte: der inflationäre Gebrauch von Zahlen und Statistiken, die eine bemerkenswerte Verachtung für Tatsachen aufweisen, das Verwischen der Grenze zwischen Fakt und Fiktion, eine fanatische ideologische Überzeugung, die Täuschung und Manipulation rechtfertigt und alle ethischen Grenzen übersteigt.» 14 Dem Zahlenmythos kommt die Funktion zu, einer verunsicherten Gesellschaft Sicherheit vorzugaukeln, die sich allerdings als Scheinsicherheit entpuppt. Die hier aufgezeigte Problematik kann ohne Weiteres auf die «Umweltkrise» übertragen werden.
Kritische Vorübung
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Bei unseren drei Armutsstudien hat niemand unseriös gearbeitet. Aber es sind eben die Annahmen und Modelle, die Begriffe und Definitionen, aufgrund derer Statistiken erstellt werden, unterschiedlich. Ohne uns dessen bewusst zu sein, können wir Statistiken gar nicht sinnvoll lesen.
Wichtig ist, dass man sich immer wieder bewusst macht, dass Statistiken nicht einfach objektiv die Wirklichkeit abbilden, sondern, dass in ihnen Vorannahmen, also Subjektivität steckt.
Auch ist bei uns die Gefahr, sich ideologisch zu verrennen ungleich geringer als bei Themen, die global aufgeheizt sind, wo ein gewaltiger wissenschaftlicher Wettbewerb besteht, wie Corona oder auch die «Umweltkrise». Wichtig ist, dass man sich immer wieder bewusst macht, dass Statistiken nicht einfach objektiv die Wirklichkeit abbilden, sondern, dass in ihnen Vorannahmen, also Subjektivität steckt. Wir wollen aus dem Gesagten eine Lehre ziehen. Der inflationäre Gebrauch von Statistiken führt nicht zu sicherer Erkenntnis, sondern zu Verwirrung. Wir wollen also Statistiken sparsam zu Rate ziehen und uns dabei bewusst sein, dass sie stets mit Vorannahmen generiert worden sind. Und wir wollen auch versuchen, bei Verwendung von Statistiken deren Vorannahmen aufzuzeigen.
Ich wollte mich eigentlich in diesem Beitrag mit der sozioökonomischen Lage der älteren Menschen in Liechtenstein befassen, bin dann aber wegen zum Teil völlig unterschiedlicher Aussagen zwischen den drei Armutsstudien über denselben Sachverhalt, die liechtensteinische Bevölkerung, zur Auffassung gelangt, dass es nicht verantwortungsvoll wäre, inkonsistente oder widersprüchliche Zahlen, wie etwa betreffend die Armutsquote, unkommentiert zuzumuten. Kein Wunder, wenn es dem Leser den Appetit auf das Thema verschlägt, würde ihm ein derartiger Zahlensalat serviert.
Bevor wir auf das eigentliche Thema eingehen, schien mir diese kritische «Vorübung» erforderlich. Naturgemäss werden wir uns in unserem Magazin immer wieder mit der Lage der älteren Menschen, insbesondere mit ökonomischen, sozialen psychologischen und medizinischen Aspekten, befassen. Es ist davon auszugehen, dass bis zur nächsten Ausgabe die Themen, auf die es sich lohnt einzugehen, nicht ausgehen werden. Genauso wenig wahrscheinlich ist es, dass die aktuellen Probleme, mit denen sich die ältere Generation konfrontiert sieht, bis zur nächster Nummer gelöst sein werden. Wir bleiben am Ball.
1 Amt für Soziale Dienste: Zweiter Armutsbericht. Einkommensschwäche und soziale Benachteiligung. Schaan, 2008
2 Amt für Soziale Dienste. Marcus Büchel/Rainer Gstöhl: Armut in Liechtenstein. Bericht über Einkommensschwäche, Bedürftigkeit und Randständigkeit im Fürstentum Liechtenstein anlässlich des UNO-Jahrzehnts 1997–2006 zur Beseitigung der Armut. Schaan, 1997
3 Amt für Statistik: Armutsgefährdung und Armut 2020. Vaduz, am 22. 5. 2023
4 Amt für Statistik, a.a.O., S. 4
5 Günther Meier: Gibt es Armut in Liechtenstein? NZZ v. 11.04. 23
6 Ich war von 1996–2012 Leiter des Amtes für Soziale Dienste und Herausgeber der ersten beiden Armutsberichte.
7 Die KK-Prämien kommen noch dazu oder werden infolge der Prämienverbilligung (teilweise) erlassen.
8 Zum Vergleich: Der tarifäre Minimalbruttolohn für einen Maler im fünften Berufsjahr betrug 2008 4188 Franken.
9 28. März 2023, S. 1
10 23. Mai 2023, S. 1
11 Die Aufzählung ist nicht vollständig.
12 Mattias Desmet: Die Psychologie des Totalitarismus.
13 Desmet, a.a.O., S. 74
14 Desmet, a.a.O., S. 87