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60Plus | Fokus | Juni, 2024
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Die Handschrift – noch zeitgemäss?

von Mathias Ospelt

«Der Mensch kann lügen, er kann sich verstellen, sich verleugnen, das Bild kann ihn verändern und verschönen, ein Buch kann lügen und ein Brief. Aber in einem ist der Mensch unlösbar an die innerste Wahrheit seines Wesens gebunden – in seiner Schrift. Die Handschrift verrät den Menschen, ob er will oder nicht, sie ist einmalig wie er selbst und spricht manchmal aus, was er verschweigt.»

(Stefan Zweig, in: «Sinn und Schönheit der Autographen», Rede im Rahmen der «Sunday Times Book Exhibition» im Londoner Grosvenor House, November 1934)

Wie der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942) festhielt, gibt es kaum etwas Individuelleres als unsere Handschrift. Auch wenn man inzwischen von der weitverbreiteten Ansicht weggekommen ist, dass die graphologisch analysierte Handschrift Ausdruck eines konkreten Persönlichkeitsprofils ist. Viel eher ist sie wohl Ausdruck persönlicher ästhetischer Vorlieben, mit der wir uns zwar immer noch von unserer besten Seite zeigen oder an der wir unbarmherzig gemessen werden können. So war es zumindest noch vor Kurzem.

Liebesbriefe und Bewerbungen

Ein schön verfasster, von Hand geschriebener Liebesbrief konnte durchaus ein Herz öffnen, eine, wie es lange Zeit verlangt wurde, handschriftliche Bewerbung konnte die Lehre oder den Stellenwechsel vereiteln, noch bevor man überhaupt zu einem Anstellungsgespräch geladen wurde. Doch diese Zeiten scheinen in der modernen Welt vorbei. Schweizer Schulen zum Beispiel – was bedeutet, dass die Liechtensteiner Schulen folgen werden – verbannten seit 2010/11 die sogenannte «Schnürlischrift» aus den Klassenzimmern der Primarschulen und ersetzten sie bis 2021 flächendeckend durch die «Deutschschweizer Basisschrift», bei der wie früher («Steinschrift») zuerst die einzelnen Buchstaben des Alphabets in unverbundener Form gelernt werden (1. Klasse) und in einem zweiten Schritt (2. Klasse) können Verbindungen zwischen den einzelnen Buchstaben individuell gesetzt werden. Individuell daher, um Verspannungen bei den Kindern zu vermeiden. Diese Entwicklung hin zu einem mehr oder weniger gleichgeschalteten Schriftbild wird von den einen als Kulturzerfall bedauert, von den anderen als Ende einer Wettbewerbsverzerrung begrüsst und von den dritten, die eh den ganzen Tag nur Texte ins Smartphone oder in den PC hämmern, mit einem Schulterzucken kommentiert: Wer schreibt denn heute noch von Hand? Und damit sind wir bei «60plus» angelangt.

Die Handschrift – auch «Schönschrift» genannt – , die einst auf Schiefertafeln, in Pressbandheften, Arbeitsheften, auf linierten oder karierten Blockblättern unter Notendruck, zuweilen auch unter Prügeln erlernt, wurde über Jahre, Jahrzehnte individuell abgeschliffen, hat sich verfestigt und ist – wie das Sprechen – zur urpersönlichen Ausdrucksform geworden.

Die Generationen ab 60 betrifft diese schulische Veränderung natürlich nicht mehr. Oder zumindest erst in 50 Jahren, wenn die «Basisschreibenden» das erste «60Plus» in den Händen halten. Für die aktuelle Leserschaft gilt ansonsten: Die Handschrift – auch «Schönschrift» genannt – , die einst auf Schiefertafeln, in Pressbandheften, Arbeitsheften, auf linierten oder karierten Blockblättern unter Notendruck, zuweilen auch unter Prügeln erlernt, wurde über Jahre, Jahrzehnte individuell abgeschliffen, hat sich verfestigt und ist – wie das Sprechen – zur urpersönlichen Ausdrucksform geworden. Die moderne Technik aber, der man sich ja nicht komplett verschliessen will, führt nun auch im Alter zu einer Erleichterung beim Schreiben, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre, da sie die über eine lange Lebensphase angeeignete Handschrift überflüssig macht. Das Lesen und das Schreiben an sich ist geblieben, aber der handgeschriebene Satz hat bald einmal ausgedient. Schade eigentlich.

Handschrift ist Hirnschrift

Besteht dadurch Grund zur Sorge? Nicht unbedingt. Doch so wie bei allem, was schnell fortschreitende technische Errungenschaften hervorbringen, gibt es dennoch einzelne Punkte, derer man sich bewusst sein sollte. Handschrift, so heisst es, ist Hirnschrift. Was so viel heisst wie: Die Handschrift trainiert auch das Gedächtnis. Natürlich geht alles ein bisschen zügiger in diesen schnelllebigen Zeiten, wenn Briefe – sofern überhaupt noch Briefe geschrieben werden – im Adler- oder im Zehnfingersystem in ein geduldiges Keyboard eingetippt oder wenn Kurznachrichten selbst mit schmerzenden Daumen in ein handliches Smartphone geschrieben werden können. Aber, so zeigen neurologische Untersuchungen: Das Schreiben von Hand hilft besonders älteren Semestern, das Gehirn fit zu halten. Auslöser dafür ist die Tatsache, dass durch das Eintippen von Texten in eine Tastatur das Gehirn weitaus weniger aktiviert wird als durch das Schreiben von Hand auf ein Stück Papier oder in ein Heft. Das herkömmlich geschriebene Wort wird auf diese Weise praktisch ins Gehirn eingeschrieben. Dieser Vorgang vollzieht sich gemäss Neurowissenschaftlern beim blossen Eintippen nicht. Untersuchungen an amerikanischen Universitäten zeigten, dass Studentinnen und Studenten, die ihre Vortragsnotizen in einen Laptop eintrugen, durch diesen Mitschreibeprozess zwar reine Fakten wie z. B. Daten und Jahreszahlen gut memorieren konnten, bei komplexen Zusammenhängen und Inhalten waren aber ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen, die ihre Aufzeichnungen nach wie vor von Hand machten, im Vorteil, da es offensichtlich einen direkten Zusammenhang zwischen Handschrift und Memorierfähigkeit gibt. Unter anderem überlegt man sich aufgrund der «Schreib-Ökonomie» – «Handschreiber» brauchen länger als «Laptoptipper» – bereits während des Schreibens eine zusammengefasste Version des Gehörten und fasst diese in eigene Worte. Ein Vorgang, der beim rasanten Eintippen in ein Keyboard oftmals entfällt. Ebenso konnte im Weiteren nachgewiesen werden, dass sich die flüssige Bewegung der Handschrift positiv auf die Kreativität auswirkt. Was dies für Kinder, die die Basisschrift erlernen, bedeuten könnte, ist allerdings noch wenig erforscht.

Handschrift als Mittel der Diagnose

Die Neurologie geht aber noch einen Schritt weiter. Da ja die Gehirnregionen, die für die persönliche Handschrift zuständig sind, auch für die gesamte Motorik des Menschen verantwortlich sind und somit auch zahlreiche neurologische Erkrankungen wie Parkinson, Schizophrenie, Alzheimer und auch Multiple Sklerose betreffen, wird in der Forschung versucht, zur Diagnose neurologischer Störungen die Handschrift beizuziehen. Man geht dabei davon aus, dass eine krankheitsbedingte Veränderung der Handschrift Hinweise auf eine neurologische Erkrankung geben kann, noch bevor entsprechende Symptome erkennbar sind. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass solche Veränderungen wie z. B. eine zittrige Schrift auch allein auf das Alter zurückzuführen sind. Nicht zuletzt auch deshalb lassen manche ältere Semester vom handgeschriebenen Brief ab und wenden sich dem Verfassen von E-Mails und anderer Internet-Post zu, da so das fortschreitende Altern weniger gut erkennbar ist. Ein nachvollziehbarer Schritt.

Diese intensivere, fast schon meditative Beschäftigung mit einem während des Schreibprozesses nur im Geiste anwesenden Gegenübers rückt durch die Social Media leider immer mehr in den Hintergrund und ist für viele aus mannigfaltigen Gründen auch gar nicht mehr wirklich gefragt.

Dennoch erfreut sich das Schreiben von Hand bei etlichen Zeitgenossinnen und -genossen nach wie vor grosser Beliebtheit. Dies vor allem bei denjenigen, die sich noch mit dem aussterbenden Medium des analogen Briefeschreibens befassen. Mit ein Grund dürfte sein, dass das handgeschriebene Verfassen eines längeren Textes, wie dies ein persönlicher Brief sein kann, weitaus mehr Aufmerksamkeit und Zeit bedarf wie eine digital getippte Nachricht. Diese intensivere, fast schon meditative Beschäftigung mit einem während des Schreibprozesses nur im Geiste anwesenden Gegenübers rückt durch die Social Media leider immer mehr in den Hintergrund und ist für viele aus mannigfaltigen Gründen auch gar nicht mehr wirklich gefragt. Dennoch finden sich nach wie vor «Exoten», die diese Form des gedanklichen Austauschs schätzen und pflegen, da dies auch einer ganz besonderen Wertschätzung der angeschriebenen Personen gleichkommt, die sich im Alltag fast nur noch bei Geburtstagskarten oder Kondolenzschreiben zeigt. Erfreulicherweise in diesem Zusammenhang ist, dass doch auch immer wieder – auch in Liechtenstein! – Erwachsenenbildungskurse angeboten werden, in denen das Schönschreiben und das sogenannte «Lettering» – das Gestalten von Schriftbildern mithilfe verschiedener kalligrafischen Techniken – gelernt und geübt wird.

Das leidige Rheuma

Eine leidige Alterserscheinung muss aber im Zusammenhang mit der Handschrift dennoch angesprochen werden: rheumatische Erkrankungen der Hände und Finger wie Arthrose, Arthritis, Gicht, Pseudogicht und Weichteilrheuma, die einem trotz aller guten Vorsätze und bei allem guten Willen das Schreiben von Hand erschweren oder gar verunmöglichen. Die Rheumaliga Schweiz hat hierzu mehrere Broschüren herausgegeben (u. a. «Ihren Gelenken zuliebe. Fünf Prinzipien für den Alltag» oder «Sie haben es in der Hand Handschmerzen verstehen, behandeln, vermeiden»), die Menschen, die an obengenannten Erkrankungen leiden, unter Umständen eine grosse praktische Hilfe sein können. Darin werden neben Tipps, Übungen und Massagebeispielen auch Hilfsmittel gezeigt und zum Kauf angeboten, die das Leben massiv erleichtern können. So lassen sich gewisse Alltagsgegenstände, die tagtäglich benutzt werden, kaum mehr von Hand betätigen: Griffe gehören dazu, Deckel, Besteck, Werkzeuge und in diesem Zusammenhang ist ganz besonders Schreibzeug zu erwähnen. Das eine oder andere lässt sich mit korrekten Bewegungsabläufen, die erlernt werden müssen, durchaus meistern. Für anderes sind ergonomische Hilfsmittel notwendig. Diese senken den Krafteinsatz, entlasten die Gelenke und geben den Leidenden ein Stück Selbstständigkeit zurück.

Besonders wertvoll für Menschen, die nach wie vor gerne von Hand schreiben, für die aber das Halten dünner Stifte wie Bleistifte, Kulis oder Füllfederhalter aufgrund der von rheumatischen Erkrankungen betroffenen Fingergelenken auf Dauer zu einer schmerzhaften Belastung führt, kann dabei eine Verdickung des Griffes durch ein Gummielement sein. Durch die Vergrösserung der Berührungsfläche liegen die Finger freier und die ganze Hand nimmt eine lockerere Griffhaltung ein.

Für diejenigen, die gerne von Hand schreiben würden, sich aber aufgrund von Hand- und Fingerbeschwerden ausserstand sehen, diese Aktivität zu pflegen, ergeben sich hier vielleicht Möglichkeiten der Linderung. Und für alle anderen, die schon lange nichts mehr von Hand geschrieben haben: Versucht es doch wieder einmal! Vielleicht öffnet sich hier nochmals eine verschlossene Welt, die nicht nur verschüttete Zugänge zu Freundinnen und Freunden, Verwandten und Bekannten schafft, sondern auch schöne alte Gewohnheiten wiedererweckt, Konzentration schafft und ein neues Zeitempfinden und sogar an Klänge, Düfte und Gefühle erinnert.