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60Plus | Fokus | September, 2024
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Fürchtet Euch nicht

oder eine Streitschrift von Steven Pinker gegen die Untergangsfantasien. Von Marcus Büchel

Eine steile Antithese zur allgegenwärtigen Stimmung, es gehe abwärts mit uns und der Welt, liefert Steven Pinker in seinem umfangreichen Werk: Aufklärung jetzt.

Die Kernaussage: In praktisch allen Lebensbereichen gab es global betrachtet Fortschritte: Lebensdauer, Ernährung, Wohlstand, Frieden, Sicherheit, Freiheit, Rechtsgleichheit, Bildung: Die Kurven zeigen bei diesen Werten stetig nach oben. Selbst das Glück und die Gelegenheit, Familie, Freunde, Kultur und Natur zu geniessen haben zugenommen. Die aufgezählten Werte entsprechen den im Jahre 2000 von 189 Mitgliedsstatten der UNO (damit auch von Liechtenstein) verabschiedeten Milleniumsentwicklungszielen für das Jahr 2015. «Und nun kommt der Knaller», so Pinker, «in jedem einzelnen Mass für menschliches Wohlergehen hat die Welt spektakuläre Fortschritte erzielt. Und der zweite Knaller: Fast niemand weiss etwas davon.» (S.73)

«Aufklärung jetzt!». Sein flammendes Plädoyer für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt nennt Pinker eine Verteidigung.

Gegen dieses «Unwissen» tritt Steven Pinker auf. An den Titel seines bereits 2018 auf Deutsch erschienenen Werks wäre wohl ein Ausrufezeichen anzuhängen, zumindest vermeint der Rezensent einen Imperativ zu hören: «Aufklärung jetzt!». Sein flammendes Plädoyer für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt nennt Pinker eine Verteidigung. Gegen wen oder was muss denn die Aufklärung verteidigt werden? Gegen den grassierenden Katastrophismus, den radikalen Kulturpessimismus, die globale Schwarzmalerei. Besonders zahlreich finden sich die Untergangspropheten in Europa und den USA; üppig gedeiht in wohlstandsgesättigten urbanen Milieus die radikale Kritik an der technisch-zivilisatorischen Erfolgsgeschichte Europas; statt die Fortschritte anzuerkennen oder gar auf sie stolz zu sein, sollen, dieser Ideologie der Dekonstruktion zufolge, Schuldgefühle und Selbstvorwürfe die Bevölkerung erfassen.

Zunächst einmal tritt Pinker den Beweis an, dass es in allen Teilen der Welt gewaltige Fortschritte gab, die letztlich auf die Grundprinzipen der Aufklärung zurückzuführen sind. Mit einem beeindruckenden Datenmaterial wird der Beleg dafür geliefert: Sechs Dutzend Diagramme repräsentieren schier alle denkbaren Parameter, mit denen so etwas wie Fortschritt zahlenmässig erfasst, bzw. gemessen werden kann.

Statistik Lebenserwartung

Die Lebenserwartung ist ein besonders wichtiger Indikator, weil praktisch alles, was für die Gesundheit relevant bzw. fürs Leben wichtig ist, darin einfliesst: Das Spektrum reicht von der Ernährung bis zur Bildung. Die Lebenserwartung betrug vor 1880 in keinem Land der Welt mehr als 40 Jahre. Ab den 1920er-Jahren stieg sie dramatisch, in Europa auf über 80 Jahre. Asien und Afrika, beide Kontinente mit viel niedrigerem Ausgangswerten, holten bei ihrem Rückstand auf. Im gleichen Zeitraum stieg die Lebenserwartung in Asien doppelt so stark an wie in Europa, in Afrika anderthalbmal so viel. Am stärksten erhöht sich die Lebensdauer in einer Bevölkerung, wenn die Kindersterblichkeit gesenkt werden kann. Die Kindersterblichkeit, die über Jahrtausende bei 30 bis 50 % lag, fiel um das Hundertfache, zunächst in Europa, dann in den entwickelten Ländern auf den Bruchteil eines Prozentpunktes; weltweit liegt sie bei 4 %; in Afrika fiel sie von 25 % in den 1960er-Jahren auf unter 10 %.

Infektionskrankheiten konnten dank Hygienemassnahmen sowie der Entdeckung von Impfstoffen und Medikamenten um Zehnerpotenzen zurückgedrängt werden. Ignaz Semmelweis‘ Entdeckung, dass Keime zum Kindbettfieber führen, die sich durch Sterilisation abtöten lassen, rettete Millionen Müttern das Leben, die Entdeckung der Blutgruppen durch Karl Landsteiner einer Milliarde Menschen.

Das von Fritz Haber und Carl Bosch entwickelte Verfahren zur Synthetisierung von Stickstoff stellt den erforderlichen Dünger bereit, der es erlaubt, die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren.

Trotz steigender Weltbevölkerung haben die Menschen mehr Kalorien zur Verfügung denn je. Die Anzahl Hungertoter und Unterernährter ist massiv zurückgegangen. «Den allergewaltigsten Schub lieferte die Chemie.» (S. 102). Das von Fritz Haber und Carl Bosch entwickelte Verfahren zur Synthetisierung von Stickstoff stellt den erforderlichen Dünger bereit, der es erlaubt, die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Mit 2,7 Milliarden geretteten Menschen führen dieses zwei Chemiker die Liste von Wissenschaftlern an, die sich ums das menschliche Wohl verdient gemacht haben.

Der Befund einer guten Entwicklung lässt sich weiterdeklinieren. Im Jahre 2008 verfügte die Weltbevölkerung über ein Durchschnittseinkommen, das dem der Westeuropäer im Jahre 1964 entsprach. «Extreme Armut ist auf dem Rückzug, und die Welt erreicht Mittelschichtsniveau.» (S. 116), dabei hat sich die Ungleichheit sowohl innerhalb der Staaten als auch zwischen diesen verringert. «Die Welt ist reicher und gleicher geworden.» Mit dem Wohlstand wächst auch die Bildung; die beiden Parameter korrelieren nicht nur, sondern bedingen sich gegenseitig. Davon profitiert auch die Umwelt: Je wohlhabender ein Land und je gebildeter dessen Bewohner, desto mehr wird es für Umweltschutzmassnahmen ausgeben.

Steven Pinker hatte bereits vor über zehn Jahren in seinem Opus Magnus: Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit, nachgewiesen, dass Gewalt im Verlauf der Geschichte durch einen «Prozess der Zivilisation» (Norbert Elias) abnahm. Das gilt für kriegerische Auseinandersetzungen ebenso wie für individuelle Opfer von Gewaltverbrechen. Die Welt ist, entgegen der weitverbreiteten Wahrnehmung, sicherer geworden. Seit Jahrzehnten wird eine Abnahme bei den Verkehrstoten, Todesfällen durch Flugzeugabstürze und Naturkatastrophen verzeichnet.

Naturgemäss lässt sich in einer kurzen Buchvorstellung lediglich ein kleiner und auch nur selektiver Ausschnitt aus dem grossen Datenwerk, aus dem komplexen globalen Gesamtbild darstellen. Dies muss genügen, um zu illustrieren, dass die misanthrope Vorstellung, es gehe mit der Welt steil abwärts, keineswegs mit dem empirischen Befund übereinstimmt.

Selbstverständlich finden sich in Pinkers Werk auch die Fakten, die Ungenügen und Scheitern dokumentieren: Immer noch gibt es Hungernde und Analphabeten, Opfer von Terrorismus und Gewalt.

Man könnte meinen, weil es so positiv aussieht, es handle sich um das naiv-rosarote Zerrbild eines US-Amerikaners. Dem ist nicht so, das Bild entsteht aus einer akribischen Sammlung von Fakten und wissenschaftlichen Analysen. Selbstverständlich finden sich in Pinkers Werk auch die Fakten, die Ungenügen und Scheitern dokumentieren: Immer noch gibt es Hungernde und Analphabeten, Opfer von Terrorismus und Gewalt. Um ein realistisches Gesamtbild zu erhalten, müssen aber unbedingt die Skalierungseffekte berücksichtigt werden, d. h. in welcher Quantität, in welchem Verhältnis kommt was vor und welche Entwicklung ist zu beobachten.

Pinker erörtert als Psychologe auch, wieso das Zerrbild einer dem Untergang zustrebenden Welt eine so breite Zustimmung erreichen konnte. Eine interessante Erklärung liegt in der Verfügbarkeitsheuristik. Da wir sowohl von Seiten der klassischen Medien als auch in den «Social Media» ständig negativer, auf Katastrophen fokussierter Berichterstattung ausgesetzt sind und diese aufgrund ihrer alarmistischen Wirkung besser erinnert werden, werden bei jeder Gelegenheit jene negativen Heuristiken herangezogen, um unangenehme, angstmachende oder unerklärliche Dinge für sich zu erklären und einzuordnen.

Pinker verwahrt sich gegen die Deutung, hinter diesen positiven Entwicklungen das Wirken eines wohlwollenden «Weltengottes» zu erkennen. Und er warnt davor, den Fortschritt als quasi naturgegebenen Automatismus anzusehen. Vielfältig sind die Bedrohungen (Kapitel 19) und gross die Herausforderungen. (Kapitel 20) Vielmehr seien es Forschung, Technik, eine Erweiterung des Horizonts durch Bildung und Aufklärung und ein Prozess der Zivilisation (in den Worten von Norbert Elias), die den Fortschritt vorantreiben. Nicht auf einen gütigen Weltgeist sei zu hoffen, sondern auf die vier Grundpfeiler der Aufklärung müssen wir uns stützen: Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Die Frohbotschaft lautet: «Der Weltuntergang findet nicht statt.» 1)

Steven Pinker
Jahrgang 1954, Professor an der Harvard Universität, ist ein experimentell ausgerichteter Kognitionspsychologe, Autor zahlreicher wissenschaftlicher Bücher und Artikel, aber auch von populärwissenschaftlichen Büchern über Sprache, Geist und der Natur des Menschen, die eine grosse internationale Verbreitung fanden. Das Time Magazin zählt ihn zu den 100 «weltweit einflussreichsten Wissenschaftlern und Denkern».

«Aufklärung jetzt»: Erstveröffentlichung 2018.
Erschienen im Fischer-Verlag,
ISBN 978-3-10-002205-9