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60Plus | Horizont | April, 2022
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Natur – ein zentraler Erfahrungsraum für unsere Kinder

Ein Plädoyer für mehr Biodiversitätsbildung. Von Prof. Dr. Dr. Jürgen Kühnis

In kindlichen Entwicklungsprozessen wird dem Lernen in authentischen Erfahrungsräumen im Freien, insbesondere in einer natürlichen oder naturnahen Umgebung, eine zentrale Rolle zugeschrieben. Mit den veränderten Bedingungen des Aufwachsens scheint sich jedoch auch der Naturbezug von Heranwachsenden zu verändern.  

Wenn wir uns an persönliche Naturerkundungen und -erlebnisse in der Kindheit erinnern, wird uns bewusst, welche vielfältigen Raum-, Sinnes- und Körpererfahrungen mit dem Aufsuchen naturnaher Landschaften und Grünräume verbunden sind. Zudem zeigen Forschungsbefunde, dass sich regelmässige Naturkontakte auch positiv auf unsere physische und psychische Gesundheit auswirken (SCNAT, 2019). Da viele unserer Einstellungen und Verhaltensweisen im Erwachsenenalter bereits im Sozialisationskontext der Kindheit geprägt werden, ist es wichtig, dass sich Kinder unsere belebte Umwelt frühzeitig erschliessen können. Eltern und Grosseltern übernehmen dabei eine wichtige Vermittlungs- und Vorbildfunktion.

Natur als wichtiger Lernort

Die Natur gilt als angestammter Entwicklungsraum von Kindern und bietet ihnen eine besonders reizvolle Lernumgebung. Durch regelmässige Naturkontakte werden nicht nur originale Begegnungen, sondern vor allem Lerngelegenheiten eröffnet, um die belebte Natur mit allen Sinnen wahrzunehmen, ein besseres Verständnis zu den Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt sowie eine respektvolle Haltung gegenüber der Natur aufzubauen (Raith & Lude, 2014; Mygind et al., 2019; Chawla, 2020). Ohne persönlichen Naturbezug und basale Kenntnisse von Pflanzen, Tieren und ihren Lebensräumen ist es auch im Sinne der Biodiversitätsbildung schwierig, ein Verständnis für die Bedeutung und Gefährdung der biologischen Vielfalt zu entwickeln (Remmele & Lindemann-Matthies, 2005; Kühnis, 2018).

Bedeutung des Sozialisationskontexts

Die Möglichkeiten und Grenzen von Kindern, sich draussen zu bewegen und Naturerfahrungen zu sammeln, werden dabei primär von den räumlichen Gegebenheiten (z. B. Wohnlage, Verkehrsdichte, Nähe und Nutzbarkeit von Grünflächen) sowie den Sicherheitsvorstellungen und Erziehungsorientierungen der Eltern (Tremblay et al., 2015; Chawla, 2020) definiert. Wie Forschungsbefunde zeigen, weisen Kinder mit einer guten Zugänglichkeit zu Naturräumen sowie einem naturverbundenen familiären Umfeld eine bessere Beziehung zur Natur auf. Zudem spielt auch das naturbezogene Wissen bzw. die Wissensvermittlung der Eltern neben der formalen Schulbildung eine wichtige Rolle, wie gut Kinder mit heimischen Tieren und Pflanzen vertraut sind (Remmele & Lindemann-Matthies, 2018; Kühnis & Fahrni, 2021).

Zunehmend lückenhafte Naturkenntnisse

Es mehren sich jedoch Anzeichen, dass die Natur als Erfahrungsraum zunehmend aus dem familiären Alltag und der Freizeitgestaltung vieler Kinder verschwindet. Die heute oft unzureichenden Kenntnisse heimischer Tier- und Pflanzenarten sind ein Indikator dieser Negativentwicklung. Beispielsweise nahmen gemäss einer Studie in der Schweiz 8–16-jährige Kinder und Jugendliche auf ihrem täglichen Schulweg im Durchschnitt nur fünf bzw. sechs Pflanzen- und Tierarten wahr, wobei es sich hauptsächlich um Gartenpflanzen und Haustiere handelte (Lindemann-Matthies, 2002). Ähnlich ernüchternde Befunde zeigt eine Studie aus Deutschland, wonach 5–11-Jährige von 24 häufigen heimischen Pflanzen- und Tierarten lediglich 17 % bzw. 22 % richtig identifizieren konnten (Remmele & Lindemann-Matthies, 2018). Auch die seit 1997 stattfindende Befragung «Jugendreport Natur» von Jugendlichen der 6. bis 9. Klassen in Deutschland zeigt im aktuellen Bericht 2021 und Zeitvergleich deutlich auf, dass Jugendliche immer weniger konkrete Naturerfahrungen machen und immer weniger über die Natur wissen (Koll & Brämer, 2021). 

Mehr Draussen-Unterricht

Um Kindern vielfältige Zugänge zur Natur zu eröffnen und ein Umweltbewusstsein aufzubauen, repräsentieren Bildungseinrichtungen neben den Eltern eine zentrale Sozialisationsinstanz, da hier alle Kinder erreicht werden können. Nicht nur angesichts der skizzierten Befunde scheint es heute eine wichtige Bildungsaufgabe der Schule zu sein, die Vertrautheit mit und die Kenntnisse über unsere Natur zu festigen. Auch für die im aktuellen Liechtensteiner Fachlehrplan «Natur-Mensch-Umwelt» (www.liele.li) intendierte Auseinandersetzung mit der belebten Natur und die Kompetenz, die Artenvielfalt von Pflanzen und Tiere erkennen und kategorisieren zu können, sind regelmässige Naturerfahrungen ausserhalb des Schulzimmers unabdingbar. Wissenschaftliche Befunde zeigen, dass regelmässiges Draussen- und naturbasiertes Lernen eine gesunde Entwicklung fördern und unter anderem einen positiven Einfluss auf die körperliche Aktivität, Konzentrationsfähigkeit, das Klassenklima, Selbstvertrauen, Sozialverhalten sowie das Naturverständnis von Kindern haben (Tremblay et al., 2015; Raith & Lude, 2014; Mygind et al., 2019; Chawla, 2020). Um dieses Potenzial zu nutzen, ist an Kindergärten und Schulen das Draussen-Lernen in allen Fächern weiter voranzutreiben.

Förderung naturnaher Schulareale

Zudem besteht an vielen Kindergarten- und Schulstandorten noch Optimierungsbedarf, den Aussenraum (inkl. Spiel- und Pausenplätze) naturnaher zu gestalten und dadurch eine attraktive Lernumgebung für alle Akteure und Fächer zu schaffen. Dieser räumliche Gestaltungsprozess stellt eine gesamtschulische Aufgabe dar, welche in Kooperation mit ausserschulischen Partnern und vor allem in Begleitung von Fachpersonen umgesetzt werden muss.

Schlussfolgerung

Die Kinder von heute sind die Eltern und Entscheidungsträger*innen von morgen. Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Transformation unser Gesellschaft, wie sie durch die Agenda 2030 angestrebt wird, ruhen deshalb viele Hoffnungen auf der nachwachsenden Generation. Ein diesbezügliches verantwortungs- und umweltbewusstes Handeln setzt entsprechendes Wissen voraus. In diesem Sinne bilden vielfältige Naturerfahrungen eine zentrale Voraussetzung, damit sich Kinder ein grundlegendes Biodiversitätsverständnis erschliessen und sich als Teil der Umwelt wahrnehmen können. Das familiäre Umfeld und die Schule übernehmen bei diesem Kompetenzerwerb eine Schlüsselfunktion.

 

Zum Autor

Prof. Dr. Dr. Jürgen Kühnis, geboren 1972, wohnt mit seiner Familie in Triesen. Studium in Sportwissenschaft, Pädagogik, Allg. Ökologie und Umweltwissenschaft an den Universitäten Bern und Fribourg sowie in medizinischer Wissenschaft an der Privaten Universität Liechtenstein. Er ist ausgewiesener Kenner der heimischen Natur und lehrt und forscht seit 2006 an der Pädagogischen Hochschule Schwyz mit den Schwerpunkten Bewegungsförderung im Kindesalter, Umweltbildung und Bildung für eine nachhaltige Entwicklung.

Zitierte Literatur

  • Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) (2019). Biodiversität, eine Garantie für Gesundheit? Swiss Academies, Factsheet 14(3).
  • Chawla, L. (2020). Childhood nature connection and constructive hope: A review of research on connecting with nature and coping with environmental loss. People and Nature, 2, 619-642.
  • Kühnis, J. (2018). Biodiversität – ein Schlüsselthema im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Thematische Relevanz und curriculare Verortung in der Schweizer Schulbildung. In P.-M. Rabensteiner, O. Holz & M. Michielsen (Eds.), Teacher Education, Sustainability and Development. Challenges, Issues, Solutions for Teaching in the 21st Century. (S. 233-242). Erziehungswissenschaft. Wien: LIT Verlag
  • Kühnis, J. & Fahrni, D. (2021). Forgotten nature? Experiences with and knowledge of nature among schoolchildren: a pilot study in Central Switzerland. Journal of elementary education, 14(1), 1-10.
  • Lindemann-Matthies, P. (2002). Wahrnehmung biologischer Vielfalt im Siedlungsraum durch Schweizer Kinder. In R. Klee, & H. Bayrhuber (Hrsg.), Lehr- und Lernforschung in der Biologiedidaktik (S. 117-130). Innsbruck: Studienverlag.
  • Mygind, L., Kjeldsted, E., Hartmeyer, R., Mygind, E., Bølling, M. & Bentsen, P. (2019). Mental, physical and social health benefits of immersive nature-experience for children and adolescents: a systematic review and quality assessment of the evidence. Health Place, 58, 1021-1036.
  • Raith, A. & Lude, A. (Hrsg.) (2014). Startkapital Natur. Wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert. München: Oekom.
  • Remmele, M. & Lindemann-Matthies, P. (2018). Like father, like son? On the relationship between parents’ and children’s familiarity with species and sources of knowledge about plants and animals, EURASIA Journal of Mathematics, Science and Technology Education, 14(10), 1-10.
  • Tremblay, M.S., Gray, C., Babcock, S., Barnes, J., Bradstreet C.C., Carr, D., Chabot, G., Choquette, L., Chorney, D., Collyer, C., Herrington, S., Janson, K., Janssen, I., Larouche, R., Pickett, W., Marlene Power, M., Sandseter, E.B.H., Simon, B. & Brussoni, M. (2015). Position Statement on Active Outdoor Play. International Journal of Environmental Research and Public Health, 12, 6475-6505.
  • Koll, D.H. & Brämer, R. (2021). 8. Jugendreport Natur 2021. Natur auf Distanz. Stadt und Land e.V. in NRW, Deutsches Wanderinstitut Marburg und Universität Köln. www.natursoziologie.de