Kolumne mit Lorenz Risch
Ende des ersten Quartals 2022 treten Liechtenstein und die Schweiz in eine neue Ära der Bewältigung der Corona-Pandemie ein. Nach gut zwei entbehrungsreichen Jahren kehren die beiden Länder in die normale Lage zurück, so wie sie vor Beginn der Pandemie (d. h. vor dem 28.2.2020) bestand. Das hat zum Beispiel zur Folge, dass das Contact Tracing eingestellt und die Isolationspflicht aufgehoben werden. Politisch stellte sich die Herausforderung, dass nicht nur der Minimierung von Krankheit und Krankheitsfolgen Beachtung geschenkt wird, sondern auch der Minimierung von Kollateralschäden, welche sich durch die Pandemiemassnahmen ergeben haben.
Die Rückkehr in die Normalität ist ein Anliegen, welches wahrscheinlich allen Bewohnerinnen und Bewohnern gemeinsam war, trotz teilweise stark unterschiedlicher Ansichten, wie Liechtenstein und der Rest der Welt wohl am besten durch diese belastende Zeit navigiert werden sollen. Nun ist dieser Zeitpunkt gekommen und es stellt sich die Frage, wie es wohl weitergeht.
Dem einen oder der anderen mag der Entscheid zur Normalisierung etwas kühn erscheinen und das Ganze viel zu schnell gehen. Vertrauen einflössen mag in diesem Zusammenhang, dass Liechtenstein in einer Studie der Universität St. Gallen im Vergleich mit anderen Nationen gute Noten für die bisherige Bewältigung der Pandemie ausgestellt bekommen hat, auch wenn die Übersterblichkeit und Fallzahlen höher waren als in anderen Ländern [1]. Die zentrale Frage ist nun, ob nun wirklich alles umgehend zum Alten zurückkehrt?
Die Antwort hierzu ist einfach: Nein. Das Infektionsgeschehen ist nach wie vor sehr aktiv, auch wenn durch Impfungen und Immunität durch vorherige COVID-19-Erkrankungen einerseits und durch die Biologie der im Moment vorherrschenden Omicron-Variante andererseits schwere Erkrankungen deutlich seltener geworden sind. Wovon ausgegangen werden kann ist, dass der Frühling und Sommer bezüglich der Fallzahlen eine Entspannung bringen werden. Was danach geschehen wird, ist offen und kann nur mittels Szenarien vorhergesehen werden. Vier solche Szenarien wurden von einer Fachgruppe (SAGE) in Grossbritannien erarbeitet [2].
Es wäre im kommenden Winter mit einem nur bedingt ausgeprägten Anstieg der Aktivität zu rechnen. Das schlechteste Szenario geht von einer Zirkulation des Virus auch in Tierarten aus, was zu vermehrter Variantenbildung führen wird.
Das beste Szenario geht dabei davon aus, dass es wenig Veränderungen bezüglich immunologischem Schutz durch Impfungen und bisherige Infektionen geben wird und sich die Schwere der Erkrankung nicht zurück auf das Niveau der Delta-Variante begibt. In diesem Szenario würden nur noch die vulnerablen Bevölkerungsteile mit bestehenden Impfstoffen jährlich geboostert werden. Antivirale Substanzen würden ihre Wirksamkeit bewahren. Es wäre im kommenden Winter mit einem nur bedingt ausgeprägten Anstieg der Aktivität zu rechnen. Das schlechteste Szenario geht von einer Zirkulation des Virus auch in Tierarten aus, was zu vermehrter Variantenbildung führen wird. Dabei könnten gewisse Varianten der vorbestehenden Immunität durch Impfung oder vorherige Infektion entgehen. Es könnten sich auch Veränderungen bezüglich bevorzugten Altersgruppen, Schwere der Erkrankung und Sterblichkeit ergeben. Impfungen müssten jährlich modifiziert werden, anti virale Therapien würden ihre Wirksamkeit weitgehend verlieren. In diesem Worst-case-Szenario würden auch auf gesellschaftlicher Ebene Massnahmen zum Eingrenzen der Krankheitsübertragung nicht mehr von der Bevölkerung getragen. Letztlich wäre hier mit einer grossen Welle im Winter zu rechnen, welche auch wieder zunehmend schwer verlaufen würde. Es wurden zusätzlich zwei weitere Szenarien entworfen, welche zwischen diesen beiden extremen Best- und worst-case-Szenarien liegen.
Vor diesem Hintergrund kann festgehalten werden, dass noch nicht klar ist, wie sich die Pandemie mittelfristig entwickeln wird. Vieles ist wissenschaftlich noch offen und betrifft sowohl die Epidemiologie aber auch Fragen zum Beispiel zu Long Covid. Eine Lockerung im jetzigen Moment mit Rückkehr zur normalen Lage scheint zurzeit ein vertretbares Risiko zu sein, auch wenn Liechtenstein und die Schweiz hier zumindest im deutschsprachigen Raum eine Vorreiterrolle einnehmen. Es ist zentral, wachsam zu bleiben und den Lauf der Pandemie aufmerksam zu verfolgen und kontinuierlich die zukünftige Entwicklung einzuschätzen. Die Rückkehr zur normalen Lage bedeutet im Moment nicht, dass die Pandemie schon bewältigt und Geschichte ist. Das Coronavirus hat uns gezeigt, dass sich innerhalb von 2–3 Wochen erhebliche Veränderungen einer epidemiologischen Lage ergeben können. Das impliziert auch, im Gesundheitswesen reaktionsfähig zu bleiben, um innert kurzer Frist entsprechend reagieren zu können. Für ein medizinisches Labor bedeutet dies zum Beispiel, die Testkapazitäten auch über die Frühlings- und Sommermonate, welche durch eine tiefe Testaktivität gekennzeichnet sind, weiterhin aufrechtzuerhalten, um im Herbst und Winter auch schnell bereit zu sein, falls die pandemische Lage dies erfordert.
Die normale Lage wird dazu führen, dass die Bevölkerung wieder mehr Freiheiten erlangt. Der Staat übergibt dabei auch Verantwortung an die einzelnen Einwohnerinnen und Einwohner. Diese vermehrte Wahrnehmung von Eigenverantwortung ist auch weiterhin nötig, um nicht nur sich selbst, sondern auch andere zu schützen. Diese vermehrte Eigenverantwortung impliziert ein Fortführen von Hygieneregeln oder auch, dass bei Krankheitssymptomen der Kontakt mit anderen Personen minimiert wird. Dies hilft, den Fortgang der Pandemie auch weiterhin so weit als möglich einzugrenzen und gleichzeitig den wirtschaftlichen und sozialen Schaden so gering wie möglich zu halten. Es wird auch ermöglichen, dass die Bevölkerung das neue Normal in der COVID-19-Pandemie im Frühling und Sommer so gut als möglich geniessen kann.
Referenzen
- Blank V. Pandemie-Ländervergleich. Corona-Bewältigung: Liechtenstein auf Platz eins. Vaterland 22.3.2022; https://www.vaterland.li/liechtenstein/wirtschaft/corona-bewaeltigung-liechtenstein-auf-platz-eins;art173,483684; Zugriff am 29.3.2022
- Scientific Advisory Group for Emergencies. Academics: Viral evolution scenarios, 10 February 2022. https://www.gov.uk/government/publications/academics-viral-evolution-scenarios-10-february-2022; Zugriff am 29.3.2022
Lorenz Risch ist Facharzt für Innere Medizin sowie für medizinische und chemische Labordiagnostik. Er ist Professor für klinische Biochemie an der Universität Bern. An der Harvard University in Boston hat er ein Masterstudium in Public Health absolviert. Diese Studienrichtung beschäftigt sich mit dem öffentlichen Gesundheitswesen und der Verbesserung der Volksgesundheit.