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60Plus | Im Blickpunkt | August, 2022
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Wie weiter nach der Franchisebefreiung?

von Dr. Marcus Büchel

ablehnend gegenübergestanden waren, entschied das Volk am 26. Juni: Die Franchise wird abgeschafft. Von vornherein war klar: Allein mit dieser singulären Entlastungmassnahme wird sich die sozioökonomische Lage der Senioren nicht substanziell verbessern lassen.

Beginnen wir alltagspraktisch: Wer seine Gasrechnung für das erste Quartal 2022 in Augenschein nahm, dürfte sich die Augen gerieben haben. War es denn möglich, dass man in diesem Winter so viel verbraucht hat? In Tat und Wahrheit waren es weder Kälte noch altersbedingte Wärmebedürftigkeit, welche die Rechnung hatte hochschnellen lassen. Vielmehr schlug ein Preisanstieg pro verbrauchte Kilowattstunde gegenüber demselben Quartal im Vorjahr um 37% zu. Ein Blick auf die Preisanzeige an der Tankstelle bestätigt den erschreckenden Befund: 2,39 für einen Liter Diesel.

Nicht nur die Energiepreise steigen exorbitant. Es drohen neue Steuern und Abgaben, die mit Klimaschutz 1 begründet werden. Darob entwertet eine Inflation, wie schon lange nicht mehr, den Geldwert und schmälert damit die Kaufkraft. Im April erreichte die Inflation in der Schweiz die 2,5%-Marke 2. Die Schweizerische Nationalbank hob, wie soeben gemeldet wurde, «überraschend» den Leitzins an, um «dem gestiegenen inflationären Druck entgegenzuwirken».3

Unser Nachbarland Österreich stöhnt unter der Last von Inflation und steigender Energiepreise, weswegen die Regierung ein «Milliardenpaket gegen die Teuerung 4» geschnürt hat, sowie die Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel ankündigte. Die Anzeichen für dramatische ökonomische Veränderungen sind unübersehbar. Bei uns übt sich die Regierung in Zurückhaltung.

Die Lage der «Rentner»

Die «Rentner» gehören zu jenen Bevölkerungsgruppen, die am meisten der Inflation bzw. neuen finanziellen Belastungen gegenüber passiv ausgesetzt sind. Da sie sich nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt befinden, können Rentner nur in Ausnahmefällen aus eigener Anstrengung ihr Einkommen verbessern, um dadurch auf die Teuerung zu reagieren. Lediglich eine Minderheit der Seniorinnen und Senioren wird sich auf Vermögens- oder Anlageerträge stützen können. 

Weder die AHV noch die Leistungen der Pensionskassen wurden in den letzten zehn Jahren erhöht. Wenn also das Renteneinkommen gleichsam einzementiert ist, bedeutet das, dass der Lebensstandard dieser Bevölkerungsgruppe dementsprechend gesunken ist. Neue Gebühren, Steuern sowie inflationäre Effekte und Preiserhöhungen können vom dem Bevölkerungsteil, der auf Renteneinkommen angewiesen ist, in der Regel nur durch Einschränkungen im Lebensstandard aufgefangen werden. Bei eingefrorenen Renten führt dieser Mechanismus notwendigerweise allmählich und schleichend zur ökonomischen sowie sozialen Schlechterstellung. 

Im Zweiten Armutsbericht von 2008 5 zeigte sich, dass die Pensionistenhaushalte das zweitniedrigste Einkommen aller Bevölkerungsgruppen erzielen (S. 54). Dementsprechend sind die Haushalte mit Alterspension in besonders hohem Ausmass von Einkommensschwäche betroffen (34%). Aufgrund der Sozialleistungen 6 reduziert sich dieser Wert auf 10 %. (S. 66) Nichtsdestotrotz stellen oder stellten 7 die Rentner bezüglich ihres Einkommens eine verletzliche Bevölkerungsgruppe dar.

«Die AHV ist zur Existenzsicherung» gedacht 8, so formulierte es zutreffend Sozialminister Manuel Frick – zu mehr allerdings reicht die AHV nicht. Zum Vergleich: Die maximale AHV beträgt 2320 Franken und die Wirtschaftliche Sozialhilfe, die per Definition das Existenzminimum abzudecken hat, 2434 Franken. Ein älterer Mensch mit einer sogenannten Vollrente muss also mit weniger auskommen als ein Bezieher von Wirtschaftlicher Sozialhilfe. Wer alleine von der AHV-Rente 9 leben muss, wird sich auf ein äusserst beengtes Leben einzuschränken haben. Erst zusätzliche Einkommen – am häufigsten werden es Bezüge aus einer Pensionskasse sein – erlauben einen normalen Lebensstandard.

… und wie sie zu verbessern wäre

Angesichts der Krise, die alle trifft, wären politische Massnahmen zu erwarten, die die Gesamtbevölkerung entlasten. Wichtige Strategien, die andere Staaten ergriffen haben, etwa die Senkung der Mehrwerteuer auf bestimmte kritische Produkte wie Lebensmittel, Treibstoffe, Strom, Gas, scheiden bei uns als politisches Handlungsfeld aus, da Liechtenstein seine Steuerhoheit in diesen Bereichen an die Schweiz abgegeben hat. Es blieben allgemeine Förderungen, beispielsweise Heiz- oder Energiezulagen, sowie Steuersenkungen oder -entlastungen als mögliche Massnahmen. Wie Regierung und Landtag der ökonomischen Krise zu begegnen gedenken, dürfte auch für den einigermassen informierten Bürger unbekannt sein.

AHV-Leistungen gehen zu einem beträchtlichen Teil ins Ausland. Bei staatlichen Leistungen jedoch ist es zulässig, diese ausschliesslich an im Land Wohnhafte auszurichten.

Wir wollen uns an dieser Stelle auf die Bevölkerungsgruppe der Senioren und Seniorinnen konzentrieren. Um die weitere Verschlechterung der sozioökonomischen Lage der (jetzigen) Pensionisten aufzuhalten oder diese gar zu verbessern, gibt es eine Palette an Möglichkeiten: Steuerentlastungen, Erhöhung der AHV, weitere staatliche Transferleistungen und Vergünstigungen (Billete, Eintritte usw.). AHV-Leistungen gehen zu einem beträchtlichen Teil ins Ausland. Bei staatlichen Leistungen jedoch ist es zulässig, diese ausschliesslich an im Land Wohnhafte auszurichten. Die Möglichkeiten spezifischer Steuerentlastungen wurden bisher weder systematisch untersucht noch in die politischen Agenden aufgenommen. Bei den Vergünstigungen wäre es sinnvoll, diese zusammenzutragen und in der Zielgruppe der Senioren bekannt zu machen.

Aus der genannten Palette wollen wir die staatliche Transferleistungen in den Fokus nehmen und diese am Beispiel der Franchise beleuchten. Bereits vor zwanzig Jahren hatte man sich im Ressort Soziales Gedanken gemacht, wie die als zu gering eingeschätzte AHV-Leistung angehoben werden könnte. Man dachte an eine pauschale Zulage zur AHV-Rente 10, die zur Abfederung der hohen Lebenshaltungskosten im Inland dienen sollte; in deren Genuss sollten ausschliesslich Rentner mit Wohnsitz in Liechtenstein kommen.

Die Abschaffung der Franchise für Personen im Rentenalter, welche Gegenstand der Volksabstimmung war, fällt unter die Kategorie «staatliche Transferleistungen». Die Ausrichtung einer staatlichen Leistung hat gegenüber der Erhöhung der AHV-Renten den Vorteil, dass die gesamten eingesetzten Mittel im Inland verbleiben können, da sie direkt aus Steuermitteln finanziert werden. Im Allgemeinen wird es als durchaus legitimes Interesse jedes Staates angesehen, seine Steuermittel prioritär seiner eigenen Bevölkerung zukommen zu lassen.

Argumente gegen Gegenargumente

Verbreitet ist die Etikettierung allgemeiner Transferleistungen mit dem Ausdruck «Giesskannenprinzip», der auch im Informationsblatt der Regierung zur Abstimmung auftauchte. Wir haben im Zweiten Armutsbericht nachgewiesen, dass allgemeine Leistungen, wie etwa das Kindergeld, sich effektiv auf die Zielgruppe auswirkt (S. 65 ff.). Pauschale Leistungen für alle oder bestimmte Bevölkerungsgruppen haben weitere Vorteile: Es werden alle in der Zielgruppe – im Falle der Abschaffung der Franchise die Rentenbezieher – zuverlässig erreicht 11; es gibt keine Hürden über Anträge oder dergleichen, zudem sind die Verwaltungskosten minimal. Man kann darüber hinaus zeigen, dass es durch ein Überwiegen einkommensabhängiger Sozialtransfers zu negativen Effekten kommt. 12 Pauschale Leistungen (exemplarisch dafür steht das Kindergeld) erzeugen derartige unerwünschte dynamische Probleme nicht. 

Das Giesskannenargument gegen die Befreiung von der Franchise kann ebenso entkräftet werden wie gegenüber anderen staatlichen Unterstützungen, die pauschal an bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgerichtet werden. Darüber hinaus haben staatliche Zuwendung eben auch den Vorteil, nicht «exportpflichtig» zu sein.

Dem Argument, dass es ungerecht sei, auch Wohlhabenderen die Franchise vom Staat bezahlen zu lassen, steht entgegen, dass Haushalte mit höheren Einkommen die bezogenen staatlichen Zuwendungen durch ihre höheren Steuerleistungen kompensieren. Das Giesskannenargument gegen die Befreiung von der Franchise kann ebenso entkräftet werden wie gegenüber anderen staatlichen Unterstützungen, die pauschal an bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgerichtet werden. Darüber hinaus haben staatliche Zuwendung eben auch den Vorteil, nicht «exportpflichtig» zu sein. Ein anderer Einwand gegen die Abschaffung der Franchise bestand in der Behauptung, dadurch würden ungerechtfertigte Arztbesuche zunehmen. Aber weder ist die Behauptung durch irgendeinen empirischen Beleg untermauert noch erscheint diese psychologisch plausibel. 

Selbstverständlich kann man es schaffen, Patienten durch hohe finanzielle Barrieren Arztbesuche zu vergällen. Die entscheidende Frage ist nur, ob dies medizinisch vernünftig ist. Möglichst viele Menschen möglichst lange mittels einer hohen Franchise vom Arztbesuch abzuhalten, kann wohl nicht das Ziel einer guten medizinischen Versorgung sein, denn die Franchise wirkt blind: Sie führt nicht zur (behaupteten) Selektion, dahingehend, dass Personen, die keinen Arzt benötigen, den Praxen fernblieben, dafür aber jene, die einen Arzt benötigen würden, diesen auch konsultierten. 

Man kann die Unrichtigkeit dieses Gegenarguments bereits anhand eines eklatanten geschlechtsspezifischen Unterschieds erkennen: Viele Forschungen belegen, dass Männer – im Vergleich zu Frauen – seltener, häufig ungern, ja zu spät zum Arzt gehen. Das führt zu schwereren Krankheitsverläufen, kostspieligeren Behandlungen und verkürzt den Männern die Lebenszeit im Vergleich zu Frauen um einiges. Alleine diesem Befund zufolge müsste man im Sinne der modernen geschlechtsspezifischen Medizin die Franchise für Männer abschaffen. 

Die Franchise trifft die Mittelschicht, und zwar jene Haushalte besonders, deren Einkommen gerade zu hoch ist, um in den Genuss staatlicher Prämienverbilligungsbeiträge zu gelangen, die sich aber jede Ausgabe sehr genau überlegen müssen. Einkommensschwache können von der Prämienverbilligung profitieren. Für diese Gruppe zeitigt die Franchise ebenso wie für Grossverdiener keine lenkende Wirkung. 

Es lässt sich also der Schluss ziehen, dass die Franchise ein an sich untaugliches Lenkungsinstrument darstellt und deshalb gehörte sie für Männer ebenso wie für Frauen abgeschafft.

Das Neidargument: Dem wohl auf die jüngere Wählerschaft angesetzten Neidargument, wonach die «Alten» zu viel vom Staat erhalten würden, kann entgegengehalten werden, dass bei den Senioren eine Reihe von Sozialtransfers entfallen, von denen «die Jungen» profitieren, etwa das Kindergeld oder die Mietbeihilfen. 

Der Wegfall der Franchise ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung; er allein vermag den schleichenden Prozess der Verschlechterung des Lebensstandards der älteren Menschen sowie der Verbreitung von Einkommensschwäche nicht aufzuhalten.

Dank des positiven Abstimmungsausgangs ist es das erste Mal seit zehn Jahren, dass sich die ökonomische Lage der Rentner durch eine staatliche Massnahme verbessern wird. Der Wegfall der Franchise ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung; er allein vermag den schleichenden Prozess der Verschlechterung des Lebensstandards der älteren Menschen sowie der Verbreitung von Einkommensschwäche nicht aufzuhalten. Dazu gehört mehr. Gewiss ist die Erhöhung der AHV längst fällig. Immerhin räumt der Sozialminister ein, dass «die gesetzliche Schwelle für eine Rentenerhöhung in diesem Jahr überschritten» sein werde, was als Anzeichen gedeutet werden kann, dass Bewegung in dieses versteinerte System kommen könnte.

Die AHV-Renten sind ein entscheidender Faktor, damit die alten Menschen mit den sich verändernden wirtschaftlichen Bedingungen mithalten können. Ohne die Erhöhung der AHV-Renten wird der bisherige Lebensstandard der älteren und alten Menschen nicht zu erhalten sein. Von der Erhöhung der AHV-Renten würden auch die Versicherten im Ausland profitieren, natürlich zu Recht. Darüber hinaus werden für die im Inland lebenden Senioren, wie oben skizziert, weitere Massnahmen erforderlich sein.

 

10 In Vorschlag gebracht wurde eine pauschale Zulage für alle AHV-Bezieher, die in Liechtenstein wohnen. Gesetzestechnisch sollte diese Zulage den Ergänzungsleistungen zur AHV und IV nachgebaut sein: Da die Ergänzungsleistungen nicht von den AHV-IV-Anstalten, sondern von der Öffentlichen Hand aus Steuermitteln finanziert werden, kann das Wohnortprinzip geltend gemacht werden, d.h. nur im Inland Wohnhafte können in deren Genuss kommen. 

11 Allgemeine pauschale Leistungen erreichen die gesetzlich definierten Zielgruppen zu 100% Im Gegensatz dazu ist jede berechnete Grösse, z.B. die Sozialhilfe, fehleranfällig, was man allein aus der Tatsache erschliessen kann, dass gegen die Entscheide (erfolgreich) Rekurse geführt werden.

12 Benachteiligung der Einkommensgruppe, die gerade nicht mehr anspruchsberechtigt ist; willkürliche Senkung des Einkommens, um eine Anspruchsberechtigung zu erlangen; vgl. dazu Armutsbericht S. 76ff.

13 Die Franchise kann als typisches Beispiel dafür herhalten, dass es nicht gelingen kann, vorwiegend mit einer «Finanzpädagogik» (Bestrafen – Belohnen) das Verhalten der Patienten in Richtung einer sinnvollen Inanspruchnahme der Gesundheitsdienste zu lenken. Der Schimäre der «Finanzpädagogik» folgend, müsste man Männer finanziell für Arztbesuche gar belohnen. 

14 Volksblatt, 3. Juni 2022, S 8