Wie einer in den Krieg und gegen die Bürokratie zu Felde zog (1. Teil) Von Marcus Büchel
Ernst Sommerlad, 1955. Quelle: Amt für Kultur, Landesarchiv
Sein grosses Werk ist Grund genug, sich ihm zu widmen – Ernst Sommerlad, Liechtensteins wohl bedeutendster Architekt der Moderne. Es gibt drei Anlässe, dies jetzt zu tun: Heuer jährt sich sein Todesjahr zum 40. Mal, vor 20 Jahren erschien die einzige umfassende Würdigung dieses Mannes in Form einer Biografie, und an diesem Europäischen Tag des Denkmals, wird seinem Werk endlich auch offiziell die gebührende Anerkennung gezollt. Dieser Beitrag rückt den Menschen in den Mittelpunkt und unternimmt den Versuch, ein psychologisches Persönlichkeitsprofil herauszuarbeiten, um den Architekten mit der abenteuerlichen Vergangenheit im Kontext der damaligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu verstehen.
Unbekümmert liess eine neue Generation von Eigentümern ein Sommerlad-Haus nach dem anderen einebnen. Und deren Architekt verschwand aus dem kollektiven Gedächtnis, bis zwei Journalisten gegen das Vergessen und den Untergang eines grossen Werkes anschrieben.
Wir berichteten in diesem Magazin schon wiederholt über unser architektonisches Erbe. Einer verbreiteten Auffassung zufolge sind Denkmalschutz und Denkmalpflege für «Altes» zuständig. Aber Bemerkens- und Erhaltenswertes findet sich nur unter Bauten, die vor 1900 errichtet wurden. Die moderne Architektur des 20. Jahrhunderts bescherte uns eine Reihe schöner Bauwerke. Allerdings finden Bauwerke aus dieser Zeit oft wenig Beachtung, viele wertvolle Gebäude wurden abgerissen. Und erst allmählich verbreitet sich hierzulande das Bewusstsein dafür, dass Bauten aus dieser Periode nicht einzig und allein unter dem Gesichtspunkt zu betrachten sind, dass sie den heutigen Vorstellungen über die Höhe der Rendite nicht mehr genügen und also zu ersetzen sind, sondern dass sie einen immateriellen Wert besitzen durch eine unverwechselbare Ästhetik, wegen ihrer Wohnqualität sowie durch ihre Einbettung in eine wohl gestaltete Gartenanlage und in die unmittelbare Umgebung.
Exemplarisch dafür stehen gut hundert Häuser in Liechtenstein, die im Bauhaus-Stil von Ernst Sommerlad geplant worden waren. Dem Zeitgeist geschuldet, verloren die Bauten im ausgehenden Jahrhundert an Wertschätzung. Unbekümmert liess eine neue Generation von Eigentümern ein Sommerlad-Haus nach dem anderen einebnen. Und deren Architekt verschwand aus dem kollektiven Gedächtnis, bis zwei Journalisten gegen das Vergessen und den Untergang eines grossen Werkes anschrieben.
Eine Biografie gegen das Vergessen
Ein Jüngling mit krausem blonden Haar und entschlossenem Blick bewacht mit einem Speer bewaffnet das grob gezimmerte Tor, auf welchem eine Adlerfigur angebracht ist. Der übermannsgrosse Vogel hält mit den Krallen seines rechten Fusses ein Schwert empor; auf dessen Brust prangt ein grosses Hakenkreuz. Hinter dem Zaun stehen vor keilförmigen Zelten mehrere dutzend Jünglinge stramm, in kurzen Hosen, kurzärmeligen Hemden und Stutzen. Als Betrachter möchte man gerne wissen, wo diese paramilitärische Szenerie aufgenommen wurde. Im trüben Hintergrund des Schwarz-Weiss-Fotos sind Berge mit Schneeresten zu erahnen, links und rechts des Lagers Bergflanken. Dem mit der liechtensteinischen Topopgrafie vertrauten Leser dämmert: Das Lager mit dem nationalsozialistischen Emblem muss auf einer grossen Wiese im Kleinsteg gestanden sein.
Dieses Foto haben die beiden Journalisten Andreas Bellasi und Ursula Riederer als Umschlagsgestaltung ihres Buches ausgewählt. Der Titel «Alsleben, alias Sommerlad» verrät, dass sich offenbar um eine Biografie handelt. Der Untertitel «Liechtenstein, die Schweiz und das Reich» lässt vermuten, dass der Leser über das Biografische hinaus etwas über die drei Länder zur Zeit des Nationalsozialismus erfahren wird. Der Umschlag erweckt die Neugier: Wieso besass der Architekt namens Sommerlad eine «alias» und was hat denn das Lager mit ihm zu tun? Am Ende werden wir es wissen.
«Dieses Buch, das die Geschichte eines Mannes erzählt, ruft in Erinnerung, was viele vergessen wollen», schreiben die Autoren in der Einleitung. Es ist die Lebensgeschichte jenes Ernst Sommerlad, der die Architektur Liechtensteins wie kein anderer im 20. Jahrhundert geprägt hat. Das angesprochene Vergessen bezieht sich nicht nur auf Ernst Sommerlad als Person und sein Werk sondern auch auf viele bittere, unangenehme Wahrheiten der Zeit, in der er gelebt hat. Der Titel ist Programm. Der Leser wird sehen: Das Autorenduo Bellasi/Riederer ist vorbehaltlos der Aufklärung verpflichtet. Zu dieser gehören jene Teile der Geschichte, die im liechtensteinischen Narrativ, sei es aus ungebrochener Überzeugung, peinlichem Berührtsein oder berechnendem Kalkül ausgelassen wurden. Es geht in dem Buch um Wahrheit, es geht um Gerechtigkeit, und es geht um die Rehabilitierung von Menschen, denen Unrecht widerfuhr oder die Opfer jener wurden, die ihre kleine oder grosse Macht zu eigenem Vorteil und anderer Schaden benutzten, ohne dabei ihr Gewissen zu strapazieren.
Der Umschlag erweckt die Neu-gier: Wieso besass der Architekt namens Sommerlad eine «alias» und was hat denn das Lager mit ihm zu tun? Am Ende werden wir es wissen.
Das Buch ist heute so brisant, aufschlussreich und aufklärerisch wie 1997, als es erschien. Ich selbst habe es erst unlängst gelesen und bin zur Auffassung gelangt, dass es eine gute Eingebung war, das Werk aus der Tiefe meiner Bücherschränke, in welchem es seit 2003 ruhte, hervorzuholen. Sicherheitshalber habe ich mich beim Verlag erkundigt, ob es überhaupt noch erhältlich ist und brachte in Erfahrung, dass noch einige Dutzend Exemplare der Erstausgabe vorrätig sind, was mich erstaunte. Der Umstand, dass dieses wichtige Werk über einen bedeutenden Architekten Liechtensteins, dessen Architektur und zur liechtensteinischen Zeitgeschichte nach zwanzig Jahren noch nicht vergriffen ist, bestärkte mich in der Idee, meine persönliche Entdeckung auch anderen zugänglich zu machen.
Die 2014 gegründete Sommerlad-Stiftung in Vaduz hat es sich zur Aufgabe gemacht, das architektonische Gesamtwerk von Ernst Sommerlad wissenschaftlich aufzuarbeiten und sich für den Erhalt der noch vorhandenen Bauwerke einzusetzen. (Weitere Information auf: www.sommerlad.li)
Das, was hier über Ernst Sommerlad und seine Zeit berichtet wird, fusst im Wesentlichen auf dem kenntnisreichen Werk von Andreas Bellasi und Ursula Riederer, wobei dieses nicht bloss referiert werden soll. Ich werde versuchen, mich durch ein psychologisches Verständnis an die Persönlichkeit Sommerlads heranzutasten. Es geht mir also um zweierlei: Die Person für sich allein genommen ist schon so interessant, dass deren Geschichte erzählenswert ist. Zum anderen: Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass die einschlägige Zeitgeschichte, zumindest in ihrer lokalen Ausprägung, anschaulicher, lebendiger wird und daher für uns Nachgeborene besser zu verstehen ist, wenn sie anhand eines Einzelschicksals geschildert wird als eine historische Abhandlung bloss in allgemeinen Aussagen.
Im Mittelpunkt des heurigen Europa-Tag des Denkmals am 2.9. steht in Liechtenstein eine Villa, die Sommerlad 1933 für den Financier Hermann Zickert errichtete. Als erstes Projekt der Stiftung Sommerlad wurde es renoviert und unter Denkmalschutz gestellt. Am Tag des Denkmals kann sich die interessierte Öffentlichkeit ein Bild davon machen, wie sich das Gebäude (s. Foto «Zickert-Haus») nach der Renovation präsentiert.
Das Zickert-Haus vor der Renovierung Quelle: Sommerlad-Stiftung Vaduz
Die frühen Jahre
Ernst Sommerlad wurde 1895 in bürgerliche Verhältnisse hineingeboren. Im Forsthaus Wiesenthal, irgendwo zwischen Darmstadt und Frankfurt gelegen, amtet sein Vater als Förster des Grossherzogtums Hessen. Das stattliche Anwesen mit landwirtschaftlichem Hof liegt mitten im Wald weitab vom nächsten Dorf. Die Idylle war nicht nur im geografischen Sinne abgeschieden. Die Familie kümmerten die Verhältnisse draussen in der Welt nicht viel. Über das Verhältnis zwischen Ernst und den Eltern erfährt man nur Weniges. Die Bindung dürfte ausgeprägt, soweit man erschliessen kann, liebevoll gewesen sein. Der Vater, der die Hundepeitsche auch zur Erziehung seiner Kinder einsetzend, war wohl nicht mehr als zeitgemäss autoritär. Die apolitische Haltung des Vaters wird Ernst übernehmen, aber – wie wir sehen werden – nur scheinbar und vordergründig. Die Mutter ist ihrem Ältesten in besorgter Weise zugeneigt. Sicher waren für ihn die Geschwister Otto und Änne wichtig; sie blieben lebenslang in gutem Kontakt, was in einem umfangreichen Briefwechsel seinen Ausdruck findet. Die Kernfamilie, Verwandte und Freunde sind für Erne, wie er im intimen Kreis genannt wurde, immer das bedeutende Bezugssystem und werden es bleiben.
Als Jugendlicher schloss sich S. der Wandervogelbewegung an, eine jugendliche Protestbewegung, die sich gegen die Enge des wilhelminischen Deutschland wandte und sich ein freies, naturgebundenes Leben auf die Fahnen schrieb. Deshalb gehörten Wandern und weitere Aktivitäten in der freien Natur zum Programm. Man kann aus dem, was S. im späteren Leben wichtig war, erschliessen, dass S. in dieser Organisation einen wichtigen Teil seiner politischen Sozialisation erfuhr. Sicher war die Wandervogelbewegung für den jungen S. auch deshalb äusserst attraktiv, da er mit den Kameraden seiner Leidenschaft für sportliche Aktivitäten frönen konnte. In einigen Disziplinen sollte S. es zur Könnerschaft bringen. Später, in Liechtenstein, wird er nicht nur weiterhin aktiv Sport betreiben, sondern sich als Sportpionier hervortun. Er wird Mitbegründer des Tennisclubs Vaduz (1925), sowie des «Skiclubs Liechtenstein» (1926) sein.
Später, in Liechtenstein, wird er nicht nur weiterhin aktiv Sport betreiben, sondern sich als Sportpionier hervortun.
Die Weltgeschichte mischt sich als harter Lehrmeister ein
Das 1913 begonnene Studium an der Landes-Baugewerkschule zu Darmstadt unterbricht er bereits im folgenden Jahr. Er rückt als Freiwilliger ins Heer ein und wird aufgrund seiner hervorragenden Fähigkeiten im Skilauf der Elite- und Angriffstruppe Deutsches Alpenchor zugeteilt, welches überall eingesetzt wird, wo es um Schlachtentscheidungen geht. Karpaten, Serbien, Bukowina, Verdun, Dolomiten, Isonzo, Marne: Die Namen lesen sich wie die Liste der «entscheidenden» Kriegsschauplätze oder das Pandämonium des ersten Weltkriegs. S., der durch Mut und taktisches Geschick besticht, wird mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Ebenso unerschrocken setzt er sich als Vizefeldweibel vorbehaltlos für die ihm anvertrauten Leute ein, auch wenn es ihm Konflikte mit seinen Vorgesetzten einbringt. Die Eigenschaft, Konflikten nicht auszuweichen, wird S. später in Liechtenstein angekreidet werden, vorerst einmal begrenzt sie seinen Aufstieg in höhere militärische Ränge. Letzteres nimmt S. in Kauf, weil ihm die Obsorge für «seine Männer» wichtiger ist. Nicht nur um die «Eigenen» bekümmert er sich. Immer wieder zeigt er besonders menschliches Verhalten gegenüber Soldaten des Feindes.
Ein Wunder, dass S. diese Hölle auf Erden unverwundet überlebt. Er selbst führt sein Überleben inrealistisch-bescheidener Selbsteinschätzung «auf ganz ungewöhnliches Glück» zurück und nicht etwa auf Tüchtigkeit oder Überlegenheit anderen gegenüber.
In einer dramatischen Szene geriet S. am 16. Juli 1918 in französische Kriegsgefangenschaft. Wieder hatte er Glück gehabt: «Der baumlange Neger mit dem Bajonett in der Hand» hatte ihn, wie er 50 Jahre später berichten wird, am Leben gelassen. Glück hatte S. gehabt und er sollte auch weiterhin «auf einer Glücksspur durchs Leben ziehen».
Von der französischen Militärjustiz der Spionage bezichtigt (zu Unrecht, soweit man erfährt), wird ihm von der Prozess gemacht. S. rechnet mit seiner Erschiessung. Da sich dafür aber keine Beweise finden und seine humanen Gesten gegenüber französischen Soldaten als mildernde Umstände gewichtet werden, wird er «nur» zu zwölf Jahren Straflager verurteilt. Dank eines raffinierten Plans gelingt es ihm, aus dem Lager Marmande zu entkommen. Äusserst dramatisch verläuft die Flucht nach Spanien. Hier erstmals seit seinem Eintritt in die Armee in Sicherheit und materiell versorgt, dekompensiert er. Die Traumata, die psychische Schäden hinterlassen haben, treten zu Tage. Er wird von Alpträumen und Wutanfällen heimgesucht. Die Angstzustände klingen bald ab und S. bereist das Land. Von der Landschaft, der Bauart, dem ganzen Volk ist er fasziniert und lässt sich inspirieren. Die Farben und Bogenfenster der spanischen Architektur werden sich in seinen eigenen Bauten wiederfinden. Obwohl er Spanien «in vollen Zügen» geniesst, drängt es ihn zurück in die Heimat, wohin zu gelangen damals ein schwieriges Unterfangen war. Als entwichener Strafgefangener steht er auf der Fahndungsliste der französischen Militärgerichtsbarkeit. Wieder kommt ihm das Glück zu Hilfe. Er erfährt, dass ein Mann einer Repatriierungsgruppe mit deutschen Soldaten nicht transportfähig ist. Es gelingt ihm unter dessen Namen nach Konstanz zu gelangen. Auf sicherem Terrain ist S. jedoch auch in Deutschland nicht, da grosse Teile von den Franzosen besetzt sind.
Das Kapitel über Sommerlads Kriegsjahre ist ausserordentlich spannend. Es alleine böte genügend Stoff für einen Abenteuerroman und die Story für einen Actionfilm. Zurück kehrt allerdings nicht ein strahlender Filmheld. Äusserlich blieb er unversehrt und er funktionierte alltagstauglich, was einen leicht übersehen lässt, dass der junge Mann – nach heutiger fachlicher Auffassung – wie hunderttausende andere Soldaten vielfach traumatisiert aus Krieg und Lagerhaft zurückgekehrt war.
Es gibt allen Grund zu Annahme, dass S. mit einem besonders stabilen «psychischen Gerüst» ausgestattet war. Dank seiner ausgeprägten Resilienz blieben die enormen Belastungen – so weit bekannt ist – ohne massive psychischen Langzeitfolgen. Psychotherapie war damals noch weitgehend unbekannt1. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich selbst Bewältigungsstrategien zuzulegen. Offenbar mit Erfolg – psychisch nicht krank, dennoch geprägt vom Krieg.
Im Lichte psychologischer Überlegungen ist die Entwicklung von Eigenschaften Sommerlads zu verstehen, die von anderen später als unangenehm empfunden werden sollten und ihm auch erhebliche Ablehnung bescheren würden: sein mangelndes Einfühlungsvermögen etwa; der verschüttete Zugang zu den eigenen Emotionen; die ungeheure Anforderung an sich selbst, die er fraglos auf andere übertrug; sein übersteigertes Kontrollbedürfnis. Das waren erfolgreiche Bewältigungsstrategien, die sich im Krieg und in den belasteten Nachkriegsjahren herausgebildet hatten, denen er sein Überleben zu verdanken hatte. In einem anderen Kontext jedoch, zumal im bäuerlichen, kriegsverschonten Liechtenstein, mochten dieselben Verhaltensweisen befremdlich wirken.
Andreas Bellasi und Ursula Riederer: Alsleben, alias Sommerlad. Liechtenstein, die Schweiz und das Reich. Rotpunkverlag, Zürich 1997. Das Buch ist erhältlich über den Handel oder bei der Sommerlad-Stiftung:
Brandiserweg 15, Vaduz;
Tel.: 373 97 07, stiftung@sommerlad.li