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60Plus | Horizont | März, 2018
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Konrad Paul Liessmann: Bildung als Provokation

Buchbesprechung von Marcus Büchel

«Er ist in Liechtenstein kein Unbekannter», pflegt man zu sagen, wenn jemand hierzulande zumindest einmal persönlich und in prominenter Weise in Erscheinung getreten ist. Dieses Kriterium erfüllt Liessmann, da er im Herbst den Festvortrag zum 80. Jubiläum des Gymnasiums hielt und just an dem Tag, an dem dieser Text verfasst wird, an der Universität Liechtenstein referiert. Theoretisch hätte man von Liessmann auch ohne dessen persönliche Anwesenheiten Kenntnis bekommen können.

Er inszeniert und leitet das «Philosophicum Lech». Und obwohl er leibhaftiger Professor für Philosophie an der Universität Wien ist, hören ihm die Menschen gerne zu.

Bekannt wurde Liessmann als pointierter und provokanter Essayist und Kulturpublizist. Er schreibt Kolumnen für den Standard und die Neue Zürcher Zeitung und er kommentiert im Schweizer Fernsehen die unterschiedlichsten gesellschaftspolitischen Themen in den Sternstunden Philosophie. Er inszeniert und leitet das «Philosophicum Lech». Und obwohl er leibhaftiger Professor für Philosophie an der Universität Wien ist, hören ihm die Menschen gerne zu. Seine Bücher geraten zu Goodsellern. Und wohl, weil er nicht nur brav forscht, sondern auch gut zu vermitteln vermag, wurde dem Umtriebigen im Jahre 2006 der Titel «Wissenschaftler des Jahres» verliehen.

Letztes Jahr erschien wieder ein neues Buch von ihm, was an sich keine Überraschung ist, da der Philosoph ein Vielschreiber ist. Darin setzt er sich mit einem Begriff auseinander, der hyperinflationär im Umlauf ist, nämlich «Bildung». Das Buch liegt im ersten Jahr bereits in dritter Auflage vor, was ein breiteres Interesse belegt, sich mit diesem – im gesellschaftlichen Diskurs meist oberflächlich gebrauchten – Begriff kritisch auseinanderzusetzen.

Natürlich vermag, so belegt der Autor eindrücklich, dieser Wunderglaube seine Versprechungen nicht zu erfüllen. 

Der Autor beschreibt Bildung als säkularisierte Religion. «Bildung» wird als universelle Problemlösung für alles angesehen. Ob als unerschöpfliche Ressource rohstoffarmer Länder im globalen Wettbewerb, ob als Mittel zur Emanzipation von Mädchen oder zur Integration von Flüchtlingen, Behinderten oder Aussenseitern, ob zum Schutz vor Drogen oder vor Verführung durch Rechtsradikalismus oder den Islamischen Staat, ob zur Beseitigung von Vorurteilen und Fettleibigkeit oder zur Sicherung zukünftiger Jobs, für alles wird von Bildung die (Er-)Lösung erwartet. Natürlich vermag, so belegt der Autor eindrücklich, dieser Wunderglaube seine Versprechungen nicht zu erfüllen. Durch die Einstellung, mit der «richtigen» Bildung würden sich (einst) alle Probleme lösen lassen, schieben die heute Handelnden zudem ihre Verantwortung auf kommende Generationen: Was zu lösen wir uns nicht in der Lage sehen, wird erst der nächsten Generation gelingen können, wenn sie nur jene Bildung erfahren haben wird, die die Bildungsapostel heute predigen.

Wo «Bildung» drauf steht, ist häufig nicht Bildung drin. Kompetenzen sollen erworben werden – von einem Grundschüler fünftausend an der Zahl –, die unter dem Diktat der Nützlichkeit, Anwendbarkeit und schnellen Verwertbarkeit stehen. Wirkliche Bildung hingegen bedeutet die Steigerung individueller Entfaltungsmöglichkeiten durch die Aneignung jener Kenntnisse, Techniken, Traditionen und Fähigkeiten, die eine Gesellschaft für wichtig und verbindlich erachtet. Weil dieser Zusammenhang verloren geht, so Liessmann, sind unsere Bildungssysteme in der Krise.

Ein Wesensmerkmal von Bildung besteht für Liessmann in der Fähigkeit, eigenständig zu denken. Bildung in diesem radikalen Sinne führt stets zur Selbstveränderung. Unverkennbar stellt sich der Autor damit in die Denktradition der Aufklärung.

Das Buch erschöpft sich keineswegs in der kritischen Analyse von Bildungseinrichtungen und -politik. Vielmehr geht es um die existentielle Frage, was ist Bildung für den Einzelnen und welche Bedeutung hat diese im gesellschaftlichen Kontext? Wo stehe ich und wohin soll ich mich geistig entwickeln? Bildung im humanistischen Sinn unterscheidet sich wesentlich vom opportunistischen Erwerb von Kompetenzen. Sie ist charakterisiert durch fundiertes Wissen, ästhetische und literarische Kenntnisse und Erfahrungen, historisches und sprachliches Bewusstsein, kritisches Verhältnis zu sich selbst, abwägende Urteilskraft und eine gesteigerte Sensibilität gegenüber den Lügen und Übertreibungen. Ein Wesensmerkmal von Bildung besteht für Liessmann in der Fähigkeit, eigenständig zu denken. Bildung in diesem radikalen Sinne führt stets zur Selbstveränderung. Unverkennbar stellt sich der Autor damit in die Denktradition der Aufklärung.

«Bildung als Provokation» lautet nicht nur der Untertitel, vielmehr ist dies der Grundtenor des Buches. Die dem wirtschaftlichen Verwertungszusammenhang, ideologischen oder sonstigen Interessen untergeordnete (Pseudo-) Bildung ist an sich eine Provokation. Und umgekehrt wirkt jene Bildung als Provokation, die sich das (humanistische) Bild des Menschen als einem freien, selbstbestimmten und denkfähigen Wesen zugrunde legt. In diesem Sinne ist Bildung nicht rund und angepasst, sondern kantig und widersprüchlich.

Das Buch ist ausgesprochen lesenswert und ein Gewinn auch und gerade für Menschen im reifen Alter, Menschen also, die weder zur Schule gehen, noch im «Produktions-» Prozess stehen, die glücklich sind, von ihren häufig banalen bis enttäuschenden Erfahrungen in Schulen und Fortbildungen endlich Abstand gewonnen zu haben. Das Buch ist deshalb lesenswert, weil es um die Bildung des Geistes geht und eine Sicht von Bildung erworben werden kann, die in der Vermittlung von Wesentlichem besteht.

Liessmanns glasklare Argumentation und seine edle Sprache machen die Lektüre zum Vergnügen. Als grosses Vergnügen habe ich es empfunden, mich von Liessmanns Zuspitzungen provozieren zu lassen. Geistreiche Provokation vermag die eigenen, eingeschliffenen Denkschemata aufzuweichen und – wie ich als Psychologe hinzufügen möchte: sie ist ein wunderbares Mittel gegen Demenz. Das Buch ist eine wirksame Pille gegen geistige Trägheit. Man muss sie nur schlucken.