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60Plus | Lebensqualität | Oktober, 2018
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Die LERNBAR – Eine Vision wurde Realität

von Hanny Büchel

Zahlreich sind die Projekte mit einer sozialen oder gemeinnützigen Zielsetzung, die von Senioren initiiert und betrieben werden. In 60PLUS stellen wir immer wieder solche Projekte vor, dieses Mal ein besonders wertvolles. Pensionierte Lehrerinnen und Lehrer gestalten einen förderlichen Lernraum für Schüler, die in einem weitgehend normierten Schulsystem zu scheitern drohen. Wir haben Hany Büchel gebeten, zu schildern, was sie dazu gebracht hat, sich zu engagieren und die Lernbar zu gründen.

Ich war 41 Jahre als Primarlehrerin und schulische Heilpädagogin tätig und wollte mit der Pensionierung die sogenannte «Freiheit» geniessen. Doch nach kurzer Zeit gab ich wieder Nachhilfestunden. Ganz einfach, weil ich darum gebeten wurde, vor allem für Kinder aus finanzschwachen Familien. Ich selbst fand auf die mir gestellte, bange Frage «Was kostest du?» jeweils keine befriedigende Antwort, aber ich merkte, dass es einen grossen Bedarf gab, lernschwächere Kinder aufzufangen, zu stabilisieren und aufzubauen. Ich suchte eine Möglichkeit, diesen Schülern und Schülerinnen in einem grösseren Umfang zu helfen. Zusammen mit zwei Lehrerinnen, vielen Anregungen aus dem Lerncafé Dornbirn und professioneller Unterstützung durch die Universität Liechtenstein entstand das Konzept LERNBAR. Es sollte ein gemeinnütziger Verein sein. Jedes Kind sollte pro Nachmittag einen symbolischen Beitrag von 5 Franken zahlen und für die weitere Finanzierung galt es, sich auf die Suche nach Sponsoren und Spendern zu machen. Vor allem aber brauchte ich gleichgesinnte, pensionierte Lehrpersonen.

Ich war 41 Jahre als Primarlehrerin und schulische Heilpädagogin tätig und wollte mit der Pensionierung die sogenannte «Freiheit» geniessen. Doch nach kurzer Zeit gab ich wieder Nachhilfestunden. Ganz einfach, weil ich darum gebeten wurde, vor allem für Kinder aus finanzschwachen Familien.

Für Schulkinder, für die etwas nicht stimmt

Und das Vorhaben gelang. Am 28. Januar 2015 wurde die LERNBAR offiziell eröffnet. Sie durfte sich, dank grosszügiger Unterstützung der Gemeinde Balzers, im leer stehenden Mariahilf-Kindergarten einnisten. Mir gefällt der Ausdruck «einnisten». Die LERNBAR ist wirklich ein Nest. Heimat für einige Nesthocker und bunte Vögel, die durch die Maschen unseres rigiden Schulsystems zu fallen drohen.

Sie ist aber in erster Linie jeden Mittwochnachmittag ein Lernort. Für vielleicht 80% der Schulkinder mag im Kontext Schule alles stimmen. Für circa 20% stimmt einiges nicht und da besteht Handlungsbedarf. Für diese Kinder setzen wir uns ein.

Weil Schule heute stark auf Kognition und Leistung ausgerichtet ist, reihen sich Lerninhalte in rasantem Tempo aneinander und der Zeitdruck steigt. Es gibt ausserschulische Nachhilfeangebote, die sich allerdings nur finanzstarke Familien leisten können. Bedarf ist vorhanden. Es scheint offenbar notwendig zu sein, ausserschulische Lernunterstützung zu geben, denn Systemopfer gibt es überall.

Es gibt ausserschulische Nachhilfeangebote, die sich allerdings nur finanzstarke Familien leisten können. Bedarf ist vorhanden.

Wir wissen, dass die individuelle Leistungsfähigkeit von Kindern sehr unterschiedlich ist. Unser Schulsystem begegnet diesem Umstand vielfach mit standardisierten Ansätzen, die kaum auf die Individualität der Kinder eingehen. Es gibt Kinder, die deutlich mehr Unterstützung benötigen, um im Regelschulsystem zu bestehen, als andere. Ist diese Förderung für die betroffenen Kinder nicht verfügbar, scheitern sie oft unnötigerweise beim Lernen und somit bei der Entfaltung ihrer Potenziale.

Also machen wir uns stark für Schulkinder, die Unterstützung brauchen. Schulkinder mit Potenzial, die trotzdem die Lernziele nicht oder nur teilweise erreichen.

Ein Nest für bunte Vögel

Kurz nach 13:30 Uhr sitzen wir alle, 23 Kinder und Jugendliche sowie neun Erwachsene, im Kreis auf unterschiedlichsten Stühlen. Meiner beispielsweise ist ein goldgelber Ohrensessel aus dem Altersheim. Abgewetzter Stoff an den Armlehnen erzählt eine Geschichte. Er ist gemütlich und unser Lesethron. Als Geschenk bekam er ein Kissen mit meinem Namen. Nun strahlt er Würde aus und ich wurde zu einer zentralen Person. So schnell kann etwas gehen.

Die Kinder und Jugendlichen sind im Alter zwischen neun und 16 Jahren; die Erwachsenen sind meist ergraute, pensionierte 60Plus – Lehrpersonen. Aber es wirken auch einsatzfreudige, begeisterungsfähige Menschen aus anderen Berufen mit. Wir besprechen den Nachmittag. Wer weshalb fehlt oder früher gehen wird und den Inhalt des sogenannten kreativen Teils. Danach geben die Kinder ihren Lernbedarf bekannt.

Auf dieser Grundlage legen wir fest, welche Betreuungsperson mit welchen Kindern an welchen Themen arbeitet. Wenn immer möglich wird Kontinuität eingehalten. Viel Wert legen wir auf eine gute Atmosphäre, Gemeinschaftssinn und Wertschätzung.

Jedes Kind muss für die drei Stunden am Mittwochnachmittag einen Fünfliber bezahlen. Dieser fällt in den Schlitz unseres geflügelten, goldenen Sparschweines. Aus einem Teil des Geldes finanzieren wir eine gesunde Pausenverpflegung und mit dem anderen Teil bestreiten wir verschiedenste Aktivitäten.

Jedes Kind muss für die drei Stunden am Mittwochnachmittag einen Fünfliber bezahlen. Dieser fällt in den Schlitz unseres geflügelten, goldenen Sparschweines.

Dieser Fünfliber ist wichtig. Er deckt jedoch die aufgewendeten Kosten für Computer, Drucker, Verbrauchsmaterial etc. nicht. Manche Eltern bezahlen mehr und wir haben grosszügigste finanzielle und materielle Unterstützung von Stiftungen und Privatpersonen erhalten.

Wo gemeinsam gelernt, gelacht und gegessen wird

Zur Pause setzen wir uns alle auf den kleinen Stühlen an die noch verbliebenen Kindergartentische. Mit einigen Verrenkungen klappt das gut und erst wenn alle Platz gefunden haben, wird gegessen. Dieses Miteinander-Essen ist ein zentrales Geschehen in der LERNBAR. Viele Kinder erleben das so sonst nicht mehr.

Die angesprochenen Aktivitäten im kreativen Teil verunsichern manche. Die Ungewissheit darüber, ob man sich vielleicht blamiert ist gross. Hier wird etwas ausserhalb des Alltäglichen eingefordert. Also machen auch die Erwachsenen mit. Wer dann aber beim Kinderyoga beim Abstützen auf den Bauch fällt bin ich. Und … es darf gelacht werden. Laut und schallend. Das befreit.

Beim Singen zeigt sich, dass wir mutige Sänger unter uns haben. Bei den durch die Physiotherapeutin vorgezeigten Konzentrationsübungen finden sich wahre Akrobaten. Unsere selbstgezeichneten Weihnachtskarten sind originell und ein Hingucker. Der Nachmittag mit Dr. Ben-Chorin, einem Rabbiner, wischt manche Vorurteile weg und durch all das und so manches hier nicht Angeführte ist jeder von uns irgendwo mit seinen Anlagen ein Könner.

Beim Singen zeigt sich, dass wir mutige Sänger unter uns haben. Bei den durch die Physiotherapeutin vorgezeigten Konzentrationsübungen finden sich wahre Akrobaten. Unsere selbstgezeichneten Weihnachtskarten sind originell und ein Hingucker.

Ich glaube, es gibt keine bessere Motivation als zu merken, dass man etwas gut kann. Dann ist man auch in den Bereichen, die einem vielleicht nicht so liegen, sicherer. Unser Schulsystem schaut mehr auf die Mängel, das Fehlende, als auf die Stärken. Dadurch wird vielen Schülern und Schülerinnen das Selbstwertgefühl geschwächt und sie müssen einiges an Energie aufwenden, um ihre Defizite auszugleichen.

Die Kinder und Jugendlichen kommen Mittwoch für Mittwoch, an ihrem oft einzigen freien Nachmittag, in die LERRNBAR. Das ist bewundernswert und eine grosse Leistung. Sie alle wollen bessere Noten schreiben. Manche möchten beim Übertritt von der Primarschule in die Realschule und nicht in die Oberschule wechseln, andere in bestimmten Schulfächern vom B-Zug in den A-Zug aufsteigen und unsere Grossen ihre Traumlehrstelle bekommen. Hinter all diesem Streben steckt eine starke, positive Energie. Diese gilt es zu nutzen, zu kultivieren.

Beziehungsarbeit mit Ruhe und Bestimmtheit

Wir Betreuer sind keine Zauberkünstler, aber wir nehmen uns Zeit für Fragen, Erklärungen, Übungen, Befindlichkeiten. Die «alte Schule» eben und das Wissen, dass pädagogische Einsichten Zeit brauchen und Neni- oder Nanaqualitäten. Damit meine ich die Ruhe und die Bestimmtheit, welche die folgende Geschichte ausdrückt:

Ich hatte vor Jahren einen Jungen in der zweiten Primarschulklasse, der sich mit dem Erledigen der Hausarbeiten schwer tat. Eines Morgens aber kam er freudestrahlend mit einer perfekten Arbeit zur Schule. Auf meine Frage, wie ihm das geglückt sei, antwortete er: «I ha zor Nana müasa. Dört hani a betz gräret, wel i ka Loscht förd Ufgaba ka ha. Si hät aber kseet: Rär du no. I ha Zyt bis morn.»

Auf meine Frage, wie ihm das geglückt sei, antwortete er: «I ha zor Nana müasa. Dört hani a betz gräret, wel i ka Loscht förd Ufgaba ka ha. Si hät aber kseet: Rär du no. I ha Zyt bis morn.»

Auch lassen wir vieles nicht durchgehen. Die schlampige, mangelhafte Rechtschreibung etwa. Unverständlicherweise scheint richtiges Schreiben nicht mehr in allen Fächern wichtig zu sein. Und das Gemurre des Schülers oder der Schülerin beim wiederholten Versuch, einen Text fehlerfrei abzuschreiben, halten wir gut aus. Und wenn einer von uns Betreuern sich selbst mal mit einer Aufgabe schwer tut, springt der Kollege oder die Kollegin ein.

Uns fällt dabei kein Zacken aus der Krone. Die Kinder haben uns längst schubladisiert: «Der kann super Mathe, die Englisch, die toll erklären und der erzählt so langatmig.» Bunt sind wir halt. Die Kleinen wie die Grossen.

Das System

Ich glaube, dass viele Lehrpersonen gerne so arbeiten würden. Heutzutage steigen in den Schulen die administrativen und regulatorischen Anforderungen und es bleibt immer weniger Zeit für die eigentliche, zentrale Arbeit. Die Arbeit muss messbar gemacht werden und der Nutzen muss berechenbar sein. Der Handlungsspielraum wird eingegrenzt und die Arbeit wird an sich uninteressanter.

Ein Projekt jagt das andere, ein neuer Zweig nach dem anderen wird eingeführt. Es muss immer alles in Bewegung sein. Egal in welche Richtung. Dabei wäre es so wichtig, sich auf Beziehungsarbeit einzulassen, denn das hat wesentlich mit Erziehung zu tun.

Viel Stress ist in meinen Augen absolut vermeidbar, wenn man das Augenmerk auf wesentliche Dinge legt und Dinge, die gut laufen, auch einmal unverändert sein lässt. In unseren Schulen verkommen viele gute Unterstützungsmassnahmen zu einer Alibi-Übung, weil am falschen Ort massiv gespart wird.

Und unser Schulsystem setzt nach wie vor auf Separation und die Selektionsverfahren sind fragwürdig. PISA, das System von Monitoring, Qualitätssicherung, Standardisierung und Tests, all das wird aus den Managementlehren an die Bildungseinrichtungen weitergegeben und unkritisch übernommen. Teilleistungsschwächen von Kindern und Jugendlichen könnten unter besseren Bedingungen wesentlich weniger problematische Auswirkungen auf deren Schullaufbahn und schlussendlich deren Berufswahl haben.

Offenes Schulsystem, Förderung aller Kinder auf höchstem Niveau, gemischte Lerngruppen, eigenständiges, eigenverantwortliches Lernen etc., einige nordische Länder machen das schon lange vor. Sie haben erkannt, dass die Kinder die Gestalter der Zukunft sind und investieren in sie. Bei uns kann ich das nicht erkennen. Es gibt zwar Kompetenzraster, die der Individualisierung dienen sollten. Die unterschiedlichen Niveaus entsprechen aber im Endeffekt nur wieder der Dreigliedrigkeit.

Gerade die Überschaubarkeit des liechtensteinischen Schulsystems würde hier ein anderes Handeln ermöglichen. Natürlich nicht zu vergessen die finanziellen Möglichkeiten.

Fazit: Liechtenstein lässt mit seinem Bildungssystem viel Potenzial ungenutzt liegen.

Ganz nebenbei ist es 16:30 Uhr geworden und die Kinder verabschieden sich aus der LERNBAR. Sie haben viel geschafft, aber auch gelacht und vor allem: Wir alle haben einander geholfen.