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60Plus | Horizont | Dezember, 2018
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Forschung zum Angreifen – Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können

von Marcus Büchel

Mit diesem Beitrag will ich den Beweis antreten, dass Forschung dem interessierten Laien nicht nur vermittelbar ist, sondern zu faszinieren vermag. Ich habe ein Sachgebiet aus meinem eigenen Fach, der Psychologie, ausgewählt. Es geht um unseren Tastsinn. Dieser wurde von der Wahrnehmungspsychologie, die sich an sich mit diesem Sinn befasst, jedoch stark vernachlässigt. Eine neue Publikation zeigt auf, wie faszinierend es ist, sich mit dem geheimnisvollen Sinn zu befassen und macht uns bewusst, dass dieser unseren Alltag mehr als nur berührt.

Martin Grunwald wirkt als Psychologe an der Universität Leipzig. Er gilt als Pionier der Haptikforschung und ist Begründer des weltweit ersten Haptik-Labors. Der Autor des Werks, das diesem Beitrag zugrunde liegt, erforscht den menschlichen Tastsinn. Grunwald berichtet über die Wirkung des Tastsinns auf unser Denken, Fühlen und Handeln, sowie über Therapieansätze, die sich aus den Erkenntnissen ableiten lassen, zum Beispiel in der Neugeborenenmedizin, bei Essstörungen und Demenz.

Unser Tastsinn, fachsprachlich als Tastsinnessystem bezeichnet, dient nicht nur der Wahrnehmung der äusseren Welt sondern auch unseres Körperinneren. Im Alltagsgebrauch bleibt uns die Existenz unseres Tastsinns meist verborgen. Allenfalls, wenn wir im Dunkeln den Wecker, den Lichtschalter oder den Ehepartner zu ertasten versuchen, mit einer besonders rauen Oberfläche in Berührung kommen oder den Topflappen wieder vergessen, daher den heissen Pfannendeckel schmerzhaft zu spüren bekommen, kommt einem dieser Sinn kurz in den Sinn.

Sehen und Hören scheinen für uns die wichtigsten Sinne zu sein, obwohl wir auch von ihrem stillen Funktionieren selten etwas mitbekommen. Erst wenn sich Einschränkungen bei diesen Sinnesleistungen einstellen, fallen sie uns auf. Dann suchen wir Fachärzte auf, die uns die entsprechenden Behelfe verschreiben. Unsere anderen Sinne stehen im Schatten der beiden dominanten Systeme. Wir riechen ständig, ohne uns diesem Sinn verschliessen zu können. Bewusst wird uns dieser Sinn, wenn wir mit besonders angenehmen Gerüchen erfreut, von besonders unangenehmen angewidert werden oder wenn wir infolge einer Grippe die Fähigkeit zu riechen vorübergehend oder auch vollständig verlieren. Ähnlich verhält es sich mit dem Schmecken, nur dass dabei kein ständiger Strom von Reizen auf uns einwirkt, denn in der Regel müssen wir aktiv etwas dem Mund zuführen, um dieses Wahrnehmungsorgan zu aktivieren.

Der Tastsinn fällt in der Bedeutung, die ihm beigemessen wird, gegenüber den anderen noch weiter ab. Das ist nicht nur im Alltag so. Er steht auch in den Wissenschaften im Schatten anderer Sinne, was man daran ablesen kann, dass über den Tastsinn nicht nur viel weniger bekannt ist sondern auch weniger geforscht wird.

Allzu selbstverständlich erscheint uns in unserer Bilderflutzeit die absolute Dominanz des Sehsinns. Diese Selbstverständlichkeit wird durch Grunwald erschüttert: Wir können zurechtkommen, auch wenn einer oder auch ein zweiter dieser «Hauptsinne» ausfällt, wir also blind, taub oder blind-taub sind. Nicht genug, er stellt dann eine schier unglaubliche These auf: «Ohne Tastsinn können wir nicht leben», und weiter: «Ohne dieses Sinnessystem wüssten wir nicht einmal, dass wir existieren». Damit stürzt Grunwald das Sehen und Hören gleichsam von deren Thron und stellt die Hierarchie der Sinne auf den Kopf. Überrascht nehmen wir zur Kenntnis, dass es unser Tastsinnessystem ist, «welches im Hintergrund den Geist unseres Körpers zusammenhält». Die Beweisführung tritt Grunwald im Buch an.

Während sich der Sehsinn erst relativ spät entwickelt – der Säugling ist nach der Geburt noch praktisch blind – bildet sich das Tastsinnessystem als erstes heraus, woraus bereits man dessen lebenswichtige Bedeutung erkennen kann. Schon ab der siebten Schwangerschaftswoche reagiert ein Embryo auf eine Berührung seiner Lippen mit einem Zurückweichen des Kopfes. D.h. der Embryo nimmt ab da schon die sanfte Berührung der Körperhaut als einen äusseren Umweltreiz wahr. Allein gestützt auf seine Sensorik vermag der Fötus ab der 15. Schwangerschaftswoche aktiv seinen Körper, vor allem sein Gesicht, zu berühren, die räumliche Umgebung im Mutterbauch zu erkunden und Saugbewegungen am Daumen durchzuführen.

In der 17. Schwangerschaftswoche passiert etwas ganz Merkwürdiges. Dem mittlerweile dreizehn Zentimeter grossen Fötus wachsen auf der ganzen Haut (mit Ausnahme der Hand- und Fussflächen) recht lange Härchen (5 bis 7 mm): das sogenannte Lanugohaar.

Koordinative Verknüpfungen zwischen Berührung und Bewegung (Motorik) werden gelernt. Darüber hinaus beginnen Berührungen positive Emotionen auszulösen. Das sind Vorbereitungen dafür, dass das Kind nicht als passives Wesen, sondern hochtrainiert zur Welt kommen wird.

Die biologische Funktion dieses Phänomens – die Behaarung verschwindet wieder vor der Geburt – war lange rätselhaft, bis die Wissenschaft erkannte, dass die Härchen als Tastantennen fungieren. Dank dieser hochsensiblen Härchen kann der Embryo, der völlig reizarm quasi im uteralen Weltraum schwebt, viel mehr wahrnehmen (die Bewegungen der Mutter sowie seine eigenen). Und hier kommt ein Naturgesetz zum Tragen: Alles, was wachsen soll, muss nicht nur ernährt, sondern auch ausreichend körperlich stimuliert werden. Jede noch so kleine Berührung wird registriert und das Signal ans Gehirn weitergeleitet. Dadurch wird das Gehirn ständig stimuliert und kann sich entwickeln. Ohne dies wäre unser geistige Entwicklung nicht möglich. Koordinative Verknüpfungen zwischen Berührung und Bewegung (Motorik) werden gelernt. Darüber hinaus beginnen Berührungen positive Emotionen auszulösen. Das sind Vorbereitungen dafür, dass das Kind nicht als passives Wesen, sondern hochtrainiert zur Welt kommen wird.

Der Tastsinn ist aber nicht nur Voraussetzung für die menschliche Entwicklung bis zur Geburt, vielmehr bleibt er bis zum Tod für uns existentiell. Es ist «das biologisch grösste und einflussreichste Sinnessystem». Ohne den Tastsinn wüssten wir nicht zu unterscheiden zwischen unserer Umwelt und unserem Körper, würden kein Bewusstsein für unser Selbst entwickeln, hätten kein «Ich». Ertastend erkunden wir die Welt – Begriff kommt von begreifen. Die vorgeburtliche Lernerfahrung, dass sich Berührungen angenehm anfühlen, wird das ganze Leben über wirksam sein. Grunwald bezeichnet Körperkontakt als Lebensmittel, als biologisches Kraftwerk. Das gilt für Säuglinge wie für Greise.

Für eine gesunde Entwicklung ist das Neugeborene auf sensible Berührungen angewiesen. Die physische Nähe befördert nicht nur zahlreiche biologische und psychologische Aspekte beim Säugling sondern auch bei der Mutter. 1989 verbreiteten sich im Westen Berichte über die katastrophalen Zustände in rumänischen Waisenhäusern. Obwohl ernährt und medizinisch mit dem Nötigsten versorgt, starben Hunderte Kinder; unzählige blieben geistig und körperlich unterentwickelt. Die in der Psychologie bereits seit langem bekannte Tatsache, dass das Fehlen der «Lebensmittel» Nähe und Zuwendung im frühen Kindesalter katastrophale Folgen zeitigt, wurde damals einer breiten Öffentlichkeit dramatisch vor Augen geführt. Geradezu literarisch wird der Forscher von der Universität Leipzig, wenn er – derartig dramatische Vernachlässigung vor Augen – schreibt: «Gut gedeiht, wer Nähe spürt.»

Nähe und Kontakt haben nicht nur einen entscheidenden Einfluss auf den Schlaf des Kindes. Erst in jüngster Zeit wurde der enge Zusammenhang zwischen einem beeinträchtigten Tastsinn und Sprachentwicklungsstörungen erkannt. Der Tastsinn ist aber nicht nur wichtig für den Spracherwerb, sondern allgemein für die kognitive und emotionale Entwicklung.

Umgekehrt kann sich im Alter eine Überempfindlichkeit gegenüber Berührungen, etwa durch die Bekleidung oder leichte Druckreize bei der Körperpflege, herausbilden. Diese Überempfindlichkeit gilt es in der Alterspflege richtig zu erkennen, um angemessen darauf eingehen zu können.

Die grossartige Leistung des Tastsinns beschränkt sich keineswegs auf die Embryonalentwicklung und Kindheitsphase. An dieser Stelle können nur noch ein paar Beispiele angeführt werden, die ich dem Krankheitsbereich entnehme. Denn häufig kommt das normale Funktionieren erst durch Einschränkungen zu Bewusstsein. Krankheitsbedingt, aber auch durch normale biologische Veränderungen beim Altern, kann es zur Verminderung oder zum Verlust der Tastsinnesleistung kommen. Die Empfindungsfähigkeit in den Beinen nimmt z.B. häufig in Folge von Diabetes ab. Aber auch im Alter lässt diese nach, weil die Anzahl der Tastkörperchen in den Fusssohlen geringer wird, was eine der Ursachen für die Sturzgefährdung im hohen Alter – ein häufiges und ernsthaftes Risiko – darstellt. Umgekehrt kann sich im Alter eine Überempfindlichkeit gegenüber Berührungen, etwa durch die Bekleidung oder leichte Druckreize bei der Körperpflege, herausbilden. Diese Überempfindlichkeit gilt es in der Alterspflege richtig zu erkennen, um angemessen darauf eingehen zu können. Zunehmend Aufmerksamkeit erhalten in Forschung und Praxis Zusammenhänge zwischen Sensorik und z. B. Magersucht. Des Weiteren können Tastsinnesstörungen frühe Anzeichen einer Demenz sein. Die Forschung interessiert sich zunehmend für dieses Thema.

Der «Zauber der Berührung» bleibt das ganze Leben über erhalten. Nicht nur Pflegebedürftige brauchen Berührung, allgemein sind Berührungen zur Aufrechterhaltung der Gesundheit und zur Behandlung von Krankheiten von unschätzbarem Wert. Bedeutung und Wirkweise körperorientierter Therapieverfahren werden zunehmend besser verstanden. In diesem Sinne ist von einer Berührungsmedizin die Rede.

Im knappen Rahmen eines Artikels konnte ich nur auf ein paar wenige Aspekte der grossen inhaltlichen Fülle des Buches eingehen. Auf die biologischen Grundlagen konnte ich ebenso wenig eingehen wie auf die Haptik im technischen Bereich. Nur soviel: Mit jedem Gegenstand um uns herum, mit dem wir in Kontakt kommen, treten wir in eine sensorische Beziehung – vom Touchscreen über das Bügeleisen bis zum Autointerieur. Die Industrie ist an wissenschaftlichen Grundlagen zur Entwicklung funktionalerer Designs interessiert.

«Alltag heisst Berührung». Unglaublich vielfältig sind dementsprechend die Fragestellungen, die Grunwald und Kollegen im Haptik-Labor an der Universität Leipzig untersuchen. Wir verstehen, dass Forschung nicht im Elfenbeinturm stattfindet. Heutzutage ist sie ein hartes Geschäft geworden, denn die Forscher müssen selbst «Drittmittel» auftreiben. Grunwald schildert freimütig, wie ihr Institut nur dank Aufträgen der Industrie in der Lage ist Grundlagenforschung und Forschung in nichtkommerziellen Bereichen zu betreiben. Im letzten Kapitel werden offene Fragen und Forschungsprojekte, auch für den Laien gut verständlich, dargestellt. Grunwald hält sympathischerweise mit seiner Motivation nicht hintan und gibt freimütig preis, dass er Werbung für seine Forschungsvorhaben macht. Denn es könnten sich ja unter den Lesern welche finden, die eines der vorgestellten Forschungsvorhaben fördern möchten.

Ich muss zugeben, dass es für mich ein Wagnis war, dieses Buch vorzustellen. Gerne wird ja das Vorurteil gepflegt, man solle Senioren nicht mit Anstrengendem befassen. Nun, ich bin gegenteiliger Ansicht: Sich anspruchsvollen Themen zu widmen, trägt entscheidend zur geistigen Fitness bei. Ein biologisches Grundprinzip besagt: Was nicht trainiert wird, verkümmert. Ob nun jemand Enkel hat, sich mit dem Alter befasst oder sich allgemein für Psychologie als Wissenschaft jenseits der üblichen Trivialliteratur interessiert, der wird das Buch mit Gewinn lesen. Das Besondere dieses Buches ist, dass es Martin Grunwald gelungen ist, alle diese unterschiedlichen Themen zu einer grossen Erzählung über den Wert und die Bedeutung des Tastsinns für den Menschen zu verknüpfen. Herausgekommen ist ein Sachbuch für ein interessiertes Publikum, von einem begeisterten Forscher geschrieben, erkenntnisreich, verständlich, mit pointierten Erkenntnissen. Der angenehme Schreibstil erhöht das Vergnügen an der Lektüre. Wer sich auf ein Abenteuer Wissenschaft einlassen möchte und Herausforderungen nicht scheut, wird bei der Lektüre von Grunwalds Werk wertvolle Nahrung fürs Hirn erhalten.

Literatur: Martin Grunwald: Homo Hapticus.
Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können.
Droemer Verlag, München, 2017