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60Plus | Interview | November, 2024
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«Das medizinische Ethos ist durch ein Finanzethos ausgetauscht worden»

von Gabi Eberle

Er sagt, was er denkt und tut, was er sagt. Dr. Oskar Ospelt, diesen Oktober 80 geworden, war von 1989 bis 2008 Liechtensteins Landesphysikus, hat über die Jahre in vielen Bereichen wesentlich zur Verbesserung der sozialpsychiatrischen Versorgung im Land beigetragen, unter anderem als Gründungsmitglied und Vizepräsident des 1989 ins Leben gerufenen Vereins für Betreutes Wohnen, als Vorsitzender der Sanitätskommission und Mitglied der Drogenkommission. Schon als junger Arzt galt sein Interesse der Sozialmedizin, welche die Wechselwirkungen zwischen Krankheit, Gesundheit, Individuum und Gesellschaft berücksichtigt. Als Gesprächspartner mit Fachwissen, Erfahrung, realistisch-optimistischer Einstellung zum Leben und gutem Humor äussert er im Interview seine Meinung zu den nachgefragten Themen im Klartext.

18 Jahre Landesphysikus – eine Aufgabe mit grosser Verantwortung und damit einhergehend der Möglichkeit, richtungsweisenden Einfluss auf das Gesundheitssystem zu nehmen. Wie haben Sie Ihre damalige Tätigkeit erlebt, worauf besonderen Wert gelegt und wo Veränderungen bewirkt?

Oskar Ospelt: Schon als junger Arzt war für mich die Sozialmedizin von Interesse, welches ich, als Dr. David Büchel damals das Physikat ablegte, sogleich bei ihm bekundete. Nach Aufnahme meiner Tätigkeit als Landesphysikus, welcher eine Einarbeitungszeit mit Hospitation im Rechtsmedizinischen Institut St. Gallen, beim Schulärztlichen Dienst in Basel und bei den Verkehrspsychologischen Diensten in Zürich vorausging, war mein erstes Bestreben, den Patienten ins Zentrum zu setzen. Ein psychisch Kranker wurde zuvor mit der Polizei in die psychiatrische Klinik St. Pirminsberg nach Pfäfers gebracht und war dort häufig langzeitinterniert. Vor den Wahlen, so hörte ich, statteten gewisse Politiker diesen Langzeitpatienten dann einen Besuch ab und versprachen ihnen bei Abgabe des entsprechenden Stimmzettels einen rascheren Austritt.

Das ist kaum zu glauben …

So war es aber, doch damit habe ich schnell aufgeräumt. Ich war am Aufbau des Rettungsdienstes beteiligt, welcher die Aufgabe der Krankentransporte übernahm. Die Polizei setzten wir nur noch hie und da, bei sehr lebhaften oder gefährlichen Personen, als Begleiter ein.

Eine Änderung mit bedeutender Aussenwirkung war u. a. die Errichtung des Landesphysikats in Räumlichkeiten der Landesverwaltung und die des Amtes für Gesundheitsdienste, wo Sie die interimistische Leitung innehatten und für dessen Aufbau verantwortlich waren. Hatten Sie in Ihrer Arbeit freie Hand?

Das Physikat ist im Wesentlichen Sozialmedizin für die Behören. Das heisst, Teil meiner Aufgabe war, die verschiedenen Behörden zu beraten und wenn nötig deren Klienten zu übernehmen. Für mich hatte jedoch zu jeder Zeit der Patient Priorität, und so fielen meine Beratungen und Beurteilungen manchmal gegen den Wunsch der Behörde aus, wodurch ich mich natürlich hie und da in die Nesseln gesetzt habe (lacht). Andererseits muss ich sagen, dass ich sehr freie Hand hatte, niemand hat sich eingemischt. Ich durfte die schönste Zeit der Physikatsentwicklung miterleben und mitgestalten. Viel und oft haben Dr. Marcus Büchel, der damalige Leiter des Amtes für Soziale Dienste, und ich zusammengearbeitet, hatten sogar einmal die Idee, die beiden Ämter – das Amt für Gesundheitsdienste und das Amt für Soziale Dienste – zusammenzulegen, was bei der Regierung jedoch nicht auf Zustimmung stiess, mit der Begründung, wir wären dann viel zu stark (lacht).

Zwischenzeitlich, seit ihrer Pensionierung 2008, gibt es keinen Landesphysikus mehr, der Name wurde abgesetzt.

Ja, das ist so. Heute gibt es zwei Amtsärztinnen beim Amt für Gesundheit. Allerdings sind sie in der Medizin nicht existent. Ich habe keine Ahnung, was sie eigentlich tun.

Am 10. Oktober war Tag der psychischen Gesundheit. Glauben Sie, dass diese vor 20 Jahren besser war als heute?

Nein, sie hat sich lediglich geändert, zum Teil vor allem bei den Jugendlichen. Durch das tägliche Konsumieren von Kurzinformationen über Social Media und alle möglichen anderen Kanäle, das In-der Kammer-Sitzen und hin und her Chatten gehen die direkten Kontakte verloren. Aus meiner Sicht wird die Entwicklung eines jungen Menschen dadurch behindert, er wird nicht reif, traut sich nichts zu, wird entscheidungsunfähig.

ADHS bei Kindern ist als Diagnose in aller Munde. Bereits im Primarschulalter wird Ritalin verabreicht. Auch Depressionen und andere psychische Probleme erfahren bei Jugendlichen wie Erwachsenen einen zunehmenden Anstieg. Was sagen Sie dazu?

Es gab schon früher unruhige Kinder, die sich schlecht konzentrieren konnten und Mühe hatten, ihre Impulse zu kontrollieren. ADHS war zwar bekannt, der Pädiater war jedoch bei der Medikamentenabgabe sehr zurückhaltend. Heutzutage erfährt jede Beeinträchtigung eine Diagnose, wird mit einem Stempel versehen. Meine Meinung ist, dass man all diese Diagnosen extrem hochschaukeln kann. Da macht natürlich jeder gerne mit, der interessiert daran ist, etwas zu verkaufen bzw. sich zu beteiligen – an erster Stelle die Pharmaindustrie. Es ist ein Phänomen, dass gerade die psychiatrischen Krankheiten solch einen Aufschwung genommen haben. Die unzähligen neuen Diagnosen haben ihren Ursprung in den Kliniken und der Psychiatrieforschung, wo jede Abweichung vom sogenannt Normalen als behandlungsnotwendig angesehen wird. Selbstverständlich muss man störende Auffälligkeiten, Beschwerden ernst nehmen. Leichte und kurzfristige seelische Störungen sind jedoch häufig wie Bagatellverletzungen im Alltag selbstheilend.

Mental stabil zu sein bzw. bleiben, dem eigenen Kompass zu folgen, ist in der heutigen Zeit von Multioptionen, Selbstoptimierung, Individualisierung – Soziale Medien wie Instgram vermitteln ein Bild von konstantem Glück, Erfolg, einer Alles-ist-machbar-Kultur –, gerade für Jugendliche jedoch kein leichtes Unterfangen.

Man könnte dieses Phänomen als Einlullen in Stichwortträumereien ohne jeden Anspruch auf seriöse Information bezeichnen. Die Folge: Es führt leider eher zur Verdummung als zur Belehrung. Das Reifwerden zum erwachsenen Bürger ist in Gefahr. Es ist eine Art moderner Religion, die nichts mit mentaler Gesundheit zu tun hat.

Eine weitere Diagnose, welche bald jede dritte Person im höheren Alter erhält, die, salopp formuliert, zeitweilig nicht mehr alle Sinne beisammen hat, ist Demenz. Gab es diese Diagnose schon früher?

Nein, die gab es nicht. Es wurde nicht diagnostiziert, sondern lediglich ein Beschwerde- oder Defizitbild erstellt: «Er oder sie kann nicht mehr gut nachdenken, ist zeitweilig verwirrt, nicht mehr so ‹zwäg›, durcheinander, kennt sich nicht mehr so aus» usw. Es war eine Symptombeschreibung und keine Diagnostik. Eine Diagnose stellt etwas Neutrales dar, schafft Abstand zum Patienten. Das Soziale, das Zugehende rückt weg und wird durch eine «notwendige» Medikamentenverschreibung ersetzt.

Jeder möchte ein grösseres Stück vom Kuchen, sprich vom Geld, das der Staat bezahlt, bekommen und damit einhergehend auch mehr bzw. entsprechendes Ansehen erlangen.

Stichwort Sozialpsychiatrie: Sie waren als Landesphysikus zuständig für die Zwangseinweisungen, haben diese Aufgabe in einem 24-Stunden-Dienst auch persönlich wahrgenommen und waren unter anderem Vizepräsident und Gründungsmitglied des Vereins für betreutes Wohnen. Verfolgt man die Medienberichte, herrscht heute eine Art Notstand punkto psychiatrischer Versorgung, obwohl es mehr entsprechende Organisationen und Fachpersonen gibt.

Das stimmt so nicht. Notstand herrscht nicht in der psychiatrischen Versorgung, sondern in den Systemen, in denen sich ein Anbietskampf abspielt. Jeder möchte ein grösseres Stück vom Kuchen, sprich vom Geld, das der Staat bezahlt, bekommen und damit einhergehend auch mehr bzw. entsprechendes Ansehen erlangen. Das ist meiner Meinung nach das Hauptmotiv der zunehmenden Diagnosen. In der Psychiatrie, die selbstverständlich sehr bedeutsam ist, hat sich Wichtigmacherei breitgemacht. Übertriebene Psychiatrie kann schädlich werden.

Bei einem medizinischen Notfall ist die Telefonnummer +423 230 30 30 zu wählen, über die man direkt mit der Landespolizei verbunden wird. Eine gute Lösung?

Zu Beginn meiner Tätigkeit als Arzt war ich der elfte Mediziner im Land. Wir führten einen medizinischen Nachtdienst, sprich Notfalldienst ein. Mittlerweile gibt es rund 130 Mediziner im Land. Darunter solche, die, obwohl gesetzlich verankert, mit dem Versprechen, weder Nacht- noch Notfalldienstdienst übernehmen zu müssen, ins Land gekommen sind. Dieser Umstand wird von der Ärztekammer und dem zuständigen Minister unterstützt. Dass die Notfallnummer und somit auch das Managen des Rettungsdienstes über die Polizei läuft, wo bis jetzt noch keine genügend erfahrenen medizinischen Mitarbeiter sitzen, ist alles andere als sinnvoll. Ein noch zu wenig Ausgebildeter bestimmt, ob und warum ein dringender Notfall vorliegt.

Auf meine Frage, wie es ihnen gehe, klagten sie mir damals über ein gefährliches, verbotenes Verhalten der Spitaldirektorin und ein Nichtstun des medizinischen Chefarztes.

Nach wie vor verfolgen Sie also die Entwicklung in der hiesigen Sozialmedizin bzw. machen sich ihr Bild davon. Mischen Sie sich noch aktiv ein?

Vor rund drei Jahren hielt ich es für notwendig, mich einzumischen, schrieb mehrere Leserbriefe zum Thema gesetzwidriges und gefährliches Verhalten der Spitalsleitung. Dies nach einem Besuch bei den Sanitätern vom Roten Kreuz, von denen ich noch etliche kannte. Auf meine Frage, wie es ihnen gehe, klagten sie mir damals über ein gefährliches, verbotenes Verhalten der Spitaldirektorin und ein Nichtstun des medizinischen Chefarztes. Dann ging ich erschüttert und zornig auf diese Personen los, bis zum zuständigen Minister. Anschliessend reichte es mir dann (lacht).

Trotzdem interessiert uns Ihre Meinung zum Landesspital. In der 2. Jahreshälfte 2025 soll der Spatenstich zum Neubau erfolgen. Im Oktober war durch eine Pressemitteilung zu erfahren, dass sich die bisherigen Architekten vom Projekt zurückziehen. Eine «neverending story», zu Deutsch: nicht endende Geschichte?

Diese Neuigkeit wäre ein gutes kabarettistisches Thema im Schlösslekeller. Meiner Meinung nach ist das Spital Vaduz leider ein dahinsiechendes, krankes Objekt. Wie es hinsichtlich Architektur weitergeht, ist mir völlig unklar. Höchstwahrscheinlich wird es erneut Verteuerungen und Verschiebungen geben. Die Verantwortlichen, die wirken sollten, sprich, das Duo Spitaldirektorin/Chefarzt ist leider unfähig, etwas Positives für das Landesspital zu tun. Das ist meine Diagnose. Darum sehe ich keine Chance für das Spital, bevor nicht von innen heraus eine Besserung erfolgt. Die «Haut drumherum» ist lediglich der nächste Schritt. Das Interesse liegt jedoch offensichtlich hauptsächlich bei einem grossen Neubau, in Anlehnung an die Casinos, einem Medizincasino. Mein Fazit: Das medizinische Ethos ist durch ein Finanzethos ausgetauscht worden.

Prinzipiell sind Sie aber für ein eigenes Spital im Land …

Doch, ja. Das Landesspital hätte bzw. hat genau dieselbe Aufgabe wie früher, nämlich, ein Belegspital für aktive Hausärzte zu sein. Alles andere hat dort nichts zu suchen.

Zu meiner Zeit als praktizierender Arzt habe ich auch Hausgeburten gemacht, da ich der Meinung war und nach wie vor bin, dass eine Geburt keine Krankheit ist.

Inklusive Geburtenstation?

Die Hebammen sind dagegen, weil sich die Verhältnisse in der Medizin geändert haben. Wie viele andere in der Medizin Tätigen spüren sie bei ihrer Arbeit sozusagen konstant den klagenden Rechtsanwalt im Rücken. Wenn etwas nicht gleich geht, folgt eine Klage auf dem Fuss – ein Phänomen, mit dem man auskommen muss. Zu meiner Zeit als praktizierender Arzt habe ich auch Hausgeburten gemacht, da ich der Meinung war und nach wie vor bin, dass eine Geburt keine Krankheit ist. Eine gesunde Schwangere, nach Untersuchung ohne Risikofaktoren, soll man doch gebären lassen, wo sie möchte. Einen Gynäkologen braucht es lediglich im Hintergrund, falls Probleme auftauchen. Aber das will heute natürlich niemand mehr, alles muss bis ins Detail geplant und abgesichert sein.

Thema Gesundheitskosten: Pro Versicherten sind in Liechtenstein die Gesundheitskosten von 2004 bis 2022 um 62 Prozent gestiegen. Werden zu schnell zu viele Medikamente abgegeben? Hält man weniger aus oder spielt mitunter auch der gesellschaftliche Druck eine Rolle?

In der Diagnostik und in der Therapie hat sich vieles wesentlich verbessert und damit einhergehend entsprechend verteuert. Darin involviert sind auch die Spitäler, wo die Kosten ebenfalls stark nach oben gehen. Zudem kommen moderne Medikamente mit weniger Nebenwirkungen auf den Markt, die bei gefährlichen Krankheiten eingesetzt werden können und sehr teuer sind. Und schlussendlich werden die Menschen immer älter mit zunehmenden Behandlungsnotwendigkeiten. Natürlich ist die Abgabe von Medikamenten eine verantwortungsvolle Aufgabe, denn es gibt für jedes Wehwehchen ein Mittelchen, welches man dem Leidenden zukommen lassen kann.

Was aber im Einzelfall Sinn macht, muss in der Summe nicht immer besser sein. Wenn mehr als fünf verschiedene Medikamente eingenommen werden, ist ihr Zusammenwirken nicht mehr gut vorhersehbar, besonders wenn man in die Jahre kommt. Besucht man ältere Menschen, sieht man nicht selten Boxen mit zehn oder mehr verschiedenen Tabletten pro Tag. Dabei werden Nebenwirkungen wie beispielsweise Schwäche oder Müdigkeit unterschätzt. Allgemein ist zu sagen, dass es das Phänomen der Medikamenteneuphorie schon immer gab. Der gesellschaftliche Druck spielt meiner Meinung nach keine Rolle.

In Hittisau im Bregenzerwald geboren und aufgewachsen, leben Sie seit Langem in Triesen, haben in jungen Jahren mit ihrer mittlerweile verstorbenen Exfrau zwei Kinder adoptiert. Vor fünf Jahren haben Sie Ihre Arztpraxis geschlossen. Womit verbringen Sie heute ihre Zeit?

Nach Liechtenstein kam ich 1975, im Alter von 30 Jahren. Erst wohnte ich in Vaduz und habe später in Triesen ein Haus gebaut. Studiert habe ich in Innsbruck und anschliessend fünf Jahre Fortbildung in den Spitälern Bregenz und Grabs absolviert. Zu Hittisau besteht nach wie vor eine enge Verbindung. Oft verbringe ich mit meiner Partnerin einige Tage in Bregenz, wo ich eine kleine Wohnung und gute Kollegen habe. Meine Tochter arbeitet in der Schlossapotheke in Vaduz, mein Sohn ist leider vor drei Jahren verstorben. Zu den beiden Enkeln besteht aber ein gutes Verhältnis – wie es scheint, bin ich ein nachgiebiger Neni (lacht). Durch mein Lungenleiden kann ich keine grossen Sprünge mehr machen, laufen in der Ebene geht aber nach wie vor ganz gut. Meine Lebenspartnerin Maru bemüht sich täglich, mir Gesundes und Gesundheit zu geben und zu vermitteln.

Und zum Schluss: Wie gehen Sie mit dem Alter(n) um?

Das Wichtigste für mich ist, dass ich mich mit den Defiziten, die auftreten, abfinden kann und davon nicht gross stören lasse. Bei Beschwerden, vor allem, wenn sie nicht behandelbar sind, nützt weder das Aufregen, das Pillenschlucken noch das zum Doktor Rennen (lacht). Das muss man halt auf sich nehmen und akzeptieren, so wie das Wetter. Was mir dabei sicher hilft, ist die Neigung, vieles unernst zu nehmen und darüber zu lachen – nicht zuletzt über mich selbst …