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60Plus | Fokus | November, 2024
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Der Stammtisch – mehr als nur schlaue Sprüche

von Mathias Ospelt

Liechtenstein weist eine lange Stammtisch-Tradition auf und auch heute noch – selbst wenn dies nicht mehr so augenfällig ist wie früher – spielen die Stammtische in ihren inzwischen weiterentwickelten Formen eine wichtige Rolle am gesellschaftlichen Leben im Land. Und dies sowohl für Männer wie auch für Frauen. Doch für wie lange noch?

Betrat man hierzulande noch vor nicht allzu langer Zeit ein Gasthaus, so gehörte zur Innenausstattung ein runder Holztisch, auf dessen Mitte ein meist verschnörkelt verzierter Aschenbecher prangte, an dem ein Metallschildchen angebracht war mit der abschreckenden Drohung: «STAMMTISCH». Je nach Tageszeit waren diese Tische voll besetzt mit rauchenden Männern, die sich durch den obligaten Zigaretten- oder Stumpenqualm hindurch entweder anschwiegen oder sich lautstarke Wortgefechte lieferten, oder aber die Stühle waren verwaist. Zufallsgäste, die es sich im letzteren Fall auf den freien Plätzen gemütlich machen wollten, wurden in der Regel vom Personal freundlich, aber bestimmt darauf hingewiesen, dass der Tisch reserviert sei. Die Anwesenheit an diesem Tisch war aufgrund eines stillen Einvernehmens zwischen Wirt und Stammtisch nur Befugten vorbehalten und nicht einmal «normale» Stammgäste, die sich täglich in ihrer Stammkneipe aufhielten, hatten ein natürliches Anrecht darauf, sich an diesem Hochaltar der freien Meinung niederzulassen. Da gab es Regeln. Und jedes Lokal hatte eigene.

Vo Namma und Stamma

Ihren Ursprung haben diese Rückzugsorte, denen oft ein schlechterer Ruf vorausging, als sie es eigentlich verdient gehabt hätten, im 18. und 19. Jahrhundert. In kleineren Städten waren es sogenannte «gute Bürger», die sich in Gasthäusern oder Kaffeehäusern auf einen Schwatz am runden Tisch trafen, und auf dem Land war es in der Regel die Dorf-Elite – also Bürgermeister, Lehrer, Pfarrer, Arzt und wohlhabende Bauern –, die zusammenkam, um über Gott und die Welt und wirtschaftliche Interessen zu plaudern. In jener Zeit entstanden auch die ersten Metalltafeln, die darauf hinwiesen, dass der «Stammtisch» nur den Stammesvorderen vorbehalten war. Vo Namma und Stamma musste man sein. Und gut geduldet. Aber gerade diese allen Nicht-Stammtischlern öffentlich vordemonstrierte Sonderstellung sorgte nicht nur in der Kleinstadt und auf dem Land für Vorurteile und Ablehnung, sondern auch zu Sorge in der Politik, die durchaus auch Spitzel einsetzte, um darüber informiert zu sein, wie – so wie es der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) einmal ausdrückte – «beim Biere die Regierung schlechtgeredet wird».

Die für ihre Meinungsvielfalt bekanntesten Stammtische – ein «roter» und ein «schwarzer» – standen hierzulande im 2010 geschlossenen Real in Vaduz. Allerdings mussten hierzu nicht extra Lauscher angeheuert werden, denn die beiden parteipolitisch gefärbten Stammtische befanden sich ohnehin in gegenseitiger Ohrennähe. Allerdings, so geht die Mär, liess der «rote» Stammtisch hin und wieder auch «schwarze» Kiebitze zu. Aber vermutlich eher in wahl- und abstimmungsfreien Phasen der Einigkeit.

Der französische Schriftsteller und Journalist Hubert d‘Havrincourt hatte vermutlich genau dieses Lokal im Sinn, als er für sein 1964 erschienenes Buch «Liechtenstein» Folgendes niederschrieb:

«Hier wird der gute Ruf begründet oder zunichte gemacht. Hier wurde noch vor wenigen Jahren die Politik der Regierung erörtert und begutachtet, hier wurden die Verdienste oder die Fehler der führenden Leute besprochen. […] Man kann sagen, dass nach dem Landesfürsten, der Regierung und dem Landtag der Stammtisch wirklich eines der wichtigsten Elemente im politischen Leben des Landes darstellt.»
(d‘Havrincourt, S. 36f.)

Stammtischsterben

Natürlich gibt es in Liechtenstein noch immer diese traditionellen Stammtische. Aber es ist offensichtlich: es werden immer weniger. Gründe hierzu gibt es zahlreiche. Neue, moderne Gastbetriebe entstehen, die sich eher der Eventkultur als der Gesprächskultur verschrieben haben und dadurch keine Stammtische brauchen. Ausser, es tanzt jemand auf ihnen. Urchige Beizen wiederum, die auf eine lange Stammtisch-Tradition zurückblicken konnten, verschwinden zusehends. Besonders deutlich macht sich dies in Vaduz bemerkbar. Was die Stammtischhocker der Residenz zu Stammtisch-Nomaden macht. So wie in dem bekannten Kinderlied: «Taler, Taler, du musst wandern, von der einen Beiz zur andern.» Ob in diesem speziellen Fall der Talbewohner gemeint ist oder das Geldstück, sei einmal dahingestellt. Andere Gründe liegen im Freizeitverhalten der Leute. Man(n) ist grösstenteils vernünftiger geworden. Geht lieber laufen als saufen. Wobei – auch dies muss gesagt sein – an sehr vielen noch bestehenden Stammtischen eher dem Genuss eines Kaffee Crèmes gefrönt wird als einer Stange Bier oder einem Zweier. Seit Corona ist es ohnehin schwieriger geworden, Männlein und Weiblein vom Netflix-Blick auf dem heimischen Sofa ins Gasthaus, auf den Tschuttiplatz oder ins Theater zu locken. Und die Jungen wissen ohnehin nicht mehr, was ein Stammtisch ist. Das ist ihnen so fremd wie eine Musikkassette, ein Telefon mit Wählscheibe und ein Samstagnachmittag im Wald.

Aber es gibt auch andere Beweggründe: Der Autor dieses Beitrags hat sich im Vorfeld dieses Textes mit verschiedenen Zeitgenossen unterhalten, die ihm als regelmässige Stammtischgänger bekannt waren. Sie alle haben ihre «Tätigkeit» inzwischen auf ein Minimum reduziert. Ihre Gründe – wohlgemerkt alles Einzelmeinungen! – sind allerdings ziemlich deckungsgleich:

  • Facebook, WhatsApp und dergleichen haben den Stammtisch ersetzt. Das ist billiger als ein Bier und bequemer als lange einen Parkplatz suchen zu müssen.
  • Seit Corona sind der intellektuelle Anreiz und der kreative argumentative Austausch verschwunden. Es wird nur mehr auf der eigenen, festgefahrenen Meinung beharrt.
  • Am Stammtisch wird nur mehr geschimpft und beleidigt.

Sonntags- und andere Stammtische

So mag der Eindruck entstehen, dass der Stammtisch inzwischen nicht nur örtlich, sondern auch funktionell verschwunden ist. Erinnert sei daher zum Beispiel an einen Stammtisch, so wie er lange Zeit im Triesenberger Kulm gepflegt wurde. So wie an vielen anderen Orten – sei dies in Liechtenstein, im Thurgau, im Tirol oder an der Nordsee – gehörte es sich, dass sich Kirchgänger nach dem sonntäglichen Gottesdienst am Stammtisch einfanden, um die gerade gehörte Predigt zu analysieren. Oder Ähnliches. Im Kulm z. B. versammelte sich eine kleine Runde von Männern – mehrheitlich Pensionäre und Gewerbetreibende – nach, manchmal auch schon vor der Messe rund um den grossen, drehbaren Aschenbecher, der von ds Ulrisch Xaveri, einem Bärger Schreiner, angefertigt worden war und tauschte sich über Dorfgeschichten aus. Der ehemalige Kulm-Wirt, Arthur Schädler, nennt es lachend: «Unwahrheiten, mit viel Wahrheit gespickt!» Und er weist darauf hin, dass es damals am Bärg solche Sonntagsstammtische natürlich zuhauf gab. Auch gab es unter der Woche im Kulm einen Frauenstammtisch, der vormittags zusammenkam.

Nochmals zu Vaduz: Hier hat sich – nicht zuletzt aufgrund des bereits erwähnten Verschwindens traditioneller Gasthäuser – im Gasthof Au ein Sammelbecken für die vielfältigsten Stammtische entwickelt. Da treffen sich die einstigen «Grüneckler», die Jäger, die Bergretter, die Fans von St. Pauli und, und, und. Einer, der gerne an diesen Stammtischen verweilt, meint, dass für ihn das Tolle am Stammtisch darin besteht, wie manchmal aus dem Nichts Gespräche entstehen, oftmals über eine alte Geschichte, die dann von anderen ergänzt und weitergeführt wird. Was er dabei vermisst: der früher übliche «Znüni»-Stamm der Handwerker, Gewerbler und Pöstler, den es praktisch überall gab, aber in der damaligen Ausgestaltung in der heutigen Zeit kaum mehr denkbar ist . . .

Wie man es aber auch machen kann, zeigt der vermutlich bekannteste Stammtisch des Landes: der Café-Matt-Stamm! Dieser Stammtisch, dessen Ziel es ist, Kameradschaft zu fördern, Brauchtum zu pflegen, Vorträge zu organisieren, lustige Wetten einzugehen und das Gastgewerbe zu unterstützen, hat sich 1988 als Verein eintragen lassen. Laut dessen Statuten treffen sich die Mitglieder täglich (!) von 12.30 bis 13 Uhr an ihren zugeteilten Plätzen zu einer Tasse Kaffee. An diesen Treffen spielen dann auch die guten Beziehungen der Mitglieder zu Politik und Wirtschaft. «Der Ruf», meint der aktuelle Präsident Martin Ritter lachend, «eilt uns voraus. Ob zu Recht oder zu Unrecht sei dahingestellt!»

Imageproblem

Der Stammtisch – so wie man ihn kannte – hat ohne Zweifel ein Imageproblem. Begriffe wie «Stammtischpolitik» oder «Stammtischgeschwätz» kommen ja nicht von ungefähr. Gerade heutzutage wird Stammtischen eine stur konservative bis hin zu einer reaktionären Kollektiv-Haltung nicht nur nachgesagt, sondern auch vorgeworfen. Aber stimmt das noch? Denn eines ist klar: Das Grundbedürfnis eines Stammtisches – und dies gilt sowohl für Männer als auch für Frauen – ist unbestritten. Der bayrische Kabarettist Gerhard Polt hat es einmal in einem Interview mit dem «Standard» so ausgedrückt:

«Für mich ist der Stammtisch auch das Wartezimmer beim Arzt. Überall ist ein Stammtisch, wo Menschen aus verschiedensten Gründen ins Gespräch kommen. Beim Tierarzt, wo sie gewisse Zeit miteinander verbringen und Themen austauschen, das find ich toll. Zuerst redet man übern Hund und die Katz, aber irgendwann über Politik.»
(Standard, 23.9.2021)

Menschen suchen Gemeinsamkeit, die traute Runde, das belanglose Gespräch und natürlich auch das neuste Gerücht. Nur nebenbei: In New York City treffen sich seit 1943 österreichische und deutsche Holocaust-Überlebende und deren Nachkommen jeden Mittwoch zu einem Stammtisch. In deutscher Sprache erinnert man sich dabei gemeinsam an die verlorene Heimat.

Am 27. Oktober 2024 führte der Verein für Vaduzer Heimatkunde im Schlösslekeller in Vaduz einen öffentlichen «Stammtisch» durch. (Bild: Michael Büchel)

Verlorene Heimat

Die Erinnerung an die verlorene Heimat ist vielleicht ganz generell ein Grundmotiv für alle Stammtischhocker. Geht es doch in ihren Gesprächen sehr oft um ein entschwundenes «Früher», das stets besser war als das bestehende «Jetzt», und auch «Heimat» muss nicht zwingend nur als eine geografische Grösse verstanden werden, sondern kann auch ein verlorener Ort in der eigenen Biografie sein wie zum Beispiel die Kindheit oder die Jugend.

Inzwischen machen sich aber auch neue Formen der Stammtischkultur bemerkbar, die mit dem herkömmlichen Verständnis nicht immer viel zu tun haben. «Netzwerk-Treffen» nennt sich so etwas dann oder «Sprachen-Café». In Funk, Fernsehen und im Internet spriessen «Stammtische», an denen zu allerlei Gefasel geblasen wird und die einen «Höfers Frühschoppen» schmerzlich zurückwünschen lassen. Es gibt Senioren-Stammtische, es gibt einen «Zoomer»-Stamm, der über Leserbriefe am politischen Tagesgeschäft teilnimmt und es entstehen, wie unlängst im Vaduzer Schlösslekeller, Bühnen-Stammtische, um die sogenannte Oral-History zu pflegen.

Kurzum: Der Stammtisch lebt. Aber anders und inkludierender als man ihn kannte. Tobias Ochsenbein und Michael Schilliger haben dies in einem «NZZ»-Beitrag vom 16.12.2016 so formuliert:

«Überlebt hat der Stammtisch, weil seine Grenze durchlässig wurde. Trotzdem schafft er nach wie vor etwas, das wir heute vielfach nur noch lächelnd auszusprechen wagen: eine Heimat. Die Tischkante als Grenze, die die Welt etwas übersichtlicher macht.»