Buchrezension von Elisabeth Seger
Die Literatur-Päpstin Elke Heidenreich arbeitet seit vielen Jahren für Radio und Fernsehen, auch für den SRF Literaturclub. Mit 80 Jahren hat sie «Altern» geschrieben, was 2024 schnell auf die Bestsellerlisten kam.
Sie hatte kein einfaches Leben. «Meine Eltern waren keine netten Leute, und ich war kein nettes Kind.» Sie kam zu Pflegeeltern, war in jungen Jahren mehrfach schwer krank, Trennung, Scheidung, schöne Arbeit beim Fernsehen, viel Geld verdient, aber wegen totaler Erschöpfung schliesslich abgebrochen. «Wenn ich nachts wach liege, bin ich dankbar für alles, für ein so langes Leben in einem demokratischen Land ohne Krieg», so ihr Bekenntnis. Heidenreich mischt in ihrem Buch ausgewählte Zitate mit ihren persönlichen Betrachtungen.
Jorge Luis Borges:
«Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen. Ich würde ein bisschen verrückter sein, als ich gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge ernst nehmen. Ich würde nicht so gesund leben. Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen. Ich war einer dieser klugen Menschen, die jede Minute dieses Lebens fruchtbar verbrachten. Freilich hatte ich auch Momente der Freude, aber wenn ich nochmal anfangen würde, würde ich versuchen, mehr gute Augenblicke zu haben. Falls du es noch nicht weisst, aus diesen besteht nämlich das Leben, nur aus Augenblicken, vergiss nicht den jetzigen. Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn bis Spätherbst barfuss gehen. Und ich würde mehr mit Kindern spielen, wenn ich das Leben noch vor mir hätte. Aber sehen Sie, ich bin fünfundachtzig Jahre alt und weiss, dass ich bald sterben werde.»
Vielleicht wollte ich, Elisabeth, nicht gerade perfekt sein. Aber einen hohen Anspruch an mich als Mutter, Ehefrau, Hausfrau hatte ich schon. Fernsehen schauen für unsere Kinder war stark limitiert. Sogar ein Fernseh-Schloss hatten wir eingebaut, damit der heiss begehrte Apparat nicht zugänglich war in unserer Abwesenheit. Not macht erfinderisch – irgendwann haben die Söhne das Schloss geknackt. Von ihrem selbst verdienten Geld haben sie sich zuallererst einen Fernseher gekauft und sich somit grenzenlose Freiheit ermöglicht. Was haben all unsere gut gemeinten pädagogischen Anstrengungen genützt? Körner gab es auch zu essen bei uns, geschrotet oder eingeweicht in allen Variationen, und die heranwachsenden Söhne mussten solches verspeisen. Dieses und andere abschreckenden Beispiele werden von den Söhnen, heute selbst Väter, ihren Kindern, die von solchem verschont bleiben, weitererzählt. Mein Vollkornkochbuch liegt schon lange unbenutzt im Schrank. Gesunde Ernährung ja, aber nicht allzu viel! Meine Söhne putzen und pflegen den Garten mit höchster Sorgfalt, viel mehr als ich es je getan habe. Vielleicht muss jeder die Phasen der Perfektion selbst durchmachen, bevor man sich mehr entspannte Augenblicke gönnt.
Elke Heidenreich:
«Mit zwanzig ist unser Herz unfertig, voller Sehnsucht nach ich weiss nicht was, und wenn wir glücklich sind, spüren wir es nicht und wissen es hinterher, wenn das Glück verloren ist … Heute weiss ich, dass das Glück kein Zustand ist, nach dem man verzweifelt suchen muss. Es ist immer nur ein Augenblick, und ich habe gelernt zu erkennen und zu geniessen. Aus der Summe glücklicher Augenblicke setzt sich das Glück des Lebens zusammen. Diesem Glück bin ich heute viel näher als mit zwanzig.»
Ich glaube viele unserer Generation können diesen Worten zustimmen und das auch so leben. Aber da muss man erst mal draufkommen, durch all die Auf und Abs, die wir gegangen sind.
Marie Luise Kaschnitz:
«Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.» Das Bild gefällt mir. Mein Balkon, mein Garten, wo ich mich zurückziehen kann, vieles mit Abstand sehen, wo mir manch Vergangenes nicht mehr wehtut. Ich bin froh und dankbar, dass ich nicht im Kerker der Einsamkeit gefangen bin und nicht von Altersarmut betroffen, wie einige in meinem Bekanntenkreis.
Elke Heidenreich:
«…dann sehe ich meine Freundin Elisabeth, die während ich dieses Buch schreibe, im 106. Lebensjahr ist und klar im Kopf. Mit dreiundzwanzig Jahren wurde sie in Jura promoviert, und ihr Leben lang hat sie gedacht, gelesen, Anteil genommen, sie ist im Kopf jünger als ich, sie ist nie verzagt, ich oft. Manchmal trinken wir einen Marillenschnaps zusammen und sie sagt: «Lass dich nicht so hängen, was soll ich denn sagen. Werde du erst mal hundert.» Will ich hundert werden? Ich will nicht hundert werden. Ich bin achtzig. Da denkt man nicht weiter als bis zum nächsten Frühjahr. Oder bis zum nächsten Tag. Und klar, natürlich lasse ich mich manchmal hängen, natürlich gibt es diese Tage ohne Mut und Kraft, aber die hatte ich mit achtzehn, dreissig, Mitte fünfzig, Anfang siebzig auch schon. So lange man wieder herauskommt, solange man wieder an die Oberfläche kommen und weiteratmen kann, darf es ruhig mal sein, das Untertauchen und Durchhängen.»
Ja, stimmt, Durchhänger hatte ich auch in allen Lebensphasen, auch in scheinbar glänzenden Zeiten, wo alles um mich herum wohlgeordnet schien. Vielleicht habe ich jetzt solche Durchhänger sogar weniger als damals, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass ich immer wieder an die Oberfläche komme und nicht immer glänzen und strahlen muss.
Die studierte Germanistin Heidenreich hat ihr Buch mit vielen, vielleicht allzu vielen Zitaten versehen. Als ich das Buch zum zweiten Mal gelesen habe, konnte ich ganz andere Stellen für mich entdecken, die mir Anstoss geben. Eine reiche Fundgrube!
Elke Heidenreich: Altern
Hanser Verlag Berlin 2024
Erhältlich auch in der Landesbibliothek Vaduz